BERLIN. Ein Leben ohne Tagebuch sei gar kein wahrhaftes Leben. Darin waren sich im Jahr 1936 in Paris die 53-jährige Thea Sternheim (1883–1971) und der 36-jährige Julien Green einig: Ein Diarium führen mache »das Glück tiefer, jedes Leid erträglicher«.
Thea Sternheim geborene Bauer, Tochter eines Neusser Schraubenfabrikanten, in einer großbürgerlich katholischen Familie aufgewachsen, zählt zu den bedeutendsten Tagebuchschreiberinnen des 20. Jahrhunderts. Von 1903 bis zu ihrem Tod füllte sie über 30.000 Seiten, schrieb über Alltägliches, Politisches, Kulturelles. Die neu edierte Auswahl umfasst die Zeit in Frankreich ab 1932. (Wer die früheren Aufzeichnungen über die Ehe- und Trennungsjahre mit dem skandalumwitterten Dramatiker Carl Sternheim nachlesen will, muss sich an der fünfbändigen Ausgabe von 2002 orientieren.) Aus Abscheu vor der aufkommenden NSDAP war die überzeugte Pazifistin und Europäerin bereits im Mai 1932 nach Paris emigriert.
Treffpunkt von Exil-Literaten
Ihre kleine Zweizimmerwohnung in der Rue Antoine Chantin Nummer 7 wurde bald zu einem Haupttreffpunkt deutscher Exil-Literaten. Dazu gehörten unter anderen Klaus Mann, Joseph Roth, Stefan Zweig, Johannes R. Becher, Hermann Kesten, Annette Kolb. Eine besondere Anhänglichkeit, geradezu Solidarität, ergab sich zu Heinrich Mann. Dabei konstatierte sie bald: »Wie doch in der deutschen Emigration jeder jeden zerreißt.«
Thea Sternheim, genannt »Stoisy«, lebte ein anderes Deutschland vor, menschenfreundlich, weltoffen, ein ruhender Pol im Haifischbecken der Intellektuellen. Als eine der wenigen emigrierten Deutschen fand sie Zugang zu französischen Intellektuellen, vor allem zu André Gide, zu Künstlern wie Frans Masereel, Pablo Picasso, Henri Matisse.
Allein 600 Namenseintragungen finden sich in jenen Jahren. Von Gide wurde Sternheim "Sie ewige Kupplerin" bezeichnet, als sie dem ernüchterten Sowjetunion-Rückkehrer Tolstois "Christentum und Vaterlandsliebe" empfahl. "Von der "Feinmechanik der Pariser Seele" schreibt sie: "Gewahre ich das skeptische Lächeln dieses Volkes, erkenne ich darin die erzieherische Leistung Voltaires." Als sie in finanzieller Bedrängnis war, verkaufte sie Matisses Stillleben "Corbeille d’oranges" an Picasso. "Welch unaussprechliches Glück", dem Hitlerterror, "den Halluzinationen der Feldwebelbluträusche", entkommen zu sein, erkannte sie schon 1933. Selber 1940 vorübergehend ins berüchtigte Lager Gurs interniert, erlebte sie mit, wie ihre Tochter, genannt "Mopsa", wegen ihres Engagements für die Résistance ins KZ Ravensbrück deportiert wurde. Die 1944 als Staatenlose Abgestempelte erfuhr, dass die Juden "nackt vergast worden sind", und notierte: "Alles, was sich jetzt vollzieht, sah ich 1933 voraus ..."
Wenige Monate vor der endgültigen deutschen Kapitulation, in der Zeit der Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz, notierte die 61-jährige: »Was mich betrifft, so hat dieser Zweite Weltkrieg meinen Lebenswillen vollkommen verlöscht, die furchtbare Ideologie des Nationalsozialismus das letzte Zugehörigkeitsgefühl zum Deutschtum abgedrosselt. Und wenn ich an dieser Loslösung zugrunde gehen sollte – ich mache nicht mit!«
Roman vollendet
Thea Sternheim praktizierte bereits in Zeiten der Diktatur das, was Theodor W. Adorno als »einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz« sah: Nichtmitmachen. Und sie vollendete ihren Roman »Sackgassen« – »ein Treuebekenntnis zu Gott«. (Sie empfand den Ablauf der Dinge religiös und berief sich auf Jesus, der »alle Völker in seinem Pax vobiscum vereinen« wollte.) Bereits 1936 fand sie diese Mahnworte: »Ist es bei allem guten Willen erlaubt, so apolitisch zu sein, seine Menschenwürde so kampflos preiszugeben?«
Ein Geleitwort des Herausgebers samt Kommentar und Register vermittelt weitere aufschlussreiche Informationen über diese unbestechliche Chronistin. Zum Beispiel die Tatsache, dass Thea Sternheim kurz vor ihrem Tod ihren ganzen Schatz dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach unter der Leitung von Bernhard Zeller schenkte. Dort ist auch noch ein anderer Nachlass zu finden, der sogar im Pariser Tagebuch mit Eintrag vom 22. Dezember 1942 vermerkt ist: Wilhelm Zimmermanns dreibändige Dettinger Erstausgabe seiner »Geschichte des großen Bauernkrieges«, Teil der Sternheimschen Privatbibliothek. (GEA)
Thea Sternheim: Die Pariser Jahre. Aus den Tagebüchern 1932–1949, herausgegeben von Thomas Ehrsam, 444 Seiten, 48 Euro, Aufbau Verlage Berlin (Die Andere Bibliothek, Band 474).