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Traumspiel in Fragmenten: »Kafkabagage« am Figurentheater Tübingen

Das Figurentheater Tübingen feiert Franz Kafka mit dem Stück »Kafkabagage«: Faszinierendes Traumspiel in Fragmenten.

Kafkas Fantasie erwacht: Karin Ould Chih und Alexander Soehnle in »Kafkabagage«.
Kafkas Fantasie erwacht: Karin Ould Chih und Alexander Soehnle in »Kafkabagage«. Foto: Thomas Morawitzky
Kafkas Fantasie erwacht: Karin Ould Chih und Alexander Soehnle in »Kafkabagage«.
Foto: Thomas Morawitzky

TÜBINGEN. Es beginnt mit dem Schrei der Krähen und mit leiser, melodischer Musik. »Er hat viele Richter, sie sind wie ein Heer von Vögeln, das in einem Baum sitzt. Ihre Stimmen gehen durcheinander, die Rang- und Zuständigkeitsfragen sind nicht zu entwirren, auch werden die Plätze fortwährend gewechselt« – Sätze aus den »Paralipomena« Kafkas, die die innere Zerrissenheit einer Person in ein skurriles und zugleich gespenstisches Bild überführen.

Die Ohnmacht von nebenan zu Besuch

Frank Soehnle wählte als Regisseur kurze Erzählungen, Aphorismen aus, um sie am Figurentheater Tübingen zu inszenieren; er gestaltete auch die Figuren des Spiels. »Kafkabagage« heißt die neue Inszenierung des Theaters, eine Hommage. Das Spiel führt hinein in den wuchernden Bau von Kafkas Sprache, ruft Fantasien auf, Tagträume, Schriften, Gedanken.

»Zwei Menschen«, so die Prämisse, »brechen auf mit Texten und Stimmen im Gepäck.« Bei der Premiere am Donnerstag sind es Karin Ould Chih und Alexander Soehnle; an anderen Abenden werden es auch Viktoria Kasprik und Frank Soehnle sein. Die Stimmen gehören Mitgliedern des Figurentheater-Ensembles, sie flüstern. Die beiden Menschen, die auf dem Weg sind, tragen schwarze Melonen, schwarze Hemden, Westen, blicken still, während eine weiße, hagere Gestalt aus Papier sich über eine weiße Fläche bückt, die bedeckt ist mit Worten – mit den Sätzen Franz Kafkas, übertragen ins Tschechische.

Kafka im eigenen Kosmos

Kafka selbst, der deutschsprachige Autor in Prag, tritt als Puppe auf, in Geschäftsanzug, sitzt auf der Kante, während Wesen zwischen Frau und Vogel sich nähern. Er fällt in eine Flasche, will sich klein machen. Ein Grammofon spielt alte Tanzmusik; Spuren bekannter Melodien tauchen auf; Stefan Mertin komponierte die Musik. Später wird sich eine Stumpenkerze flackernd auf dem Plattenteller drehen. Aus dem Dunkel tritt eine blasse Pappmachefigur hervor – ist es die Ohnmacht, die zu Anton, der Figur einer Geschichte, kam. Die beiden stummen Puppenspieler mit ihren Melonen, die geduldig dreinschauen und von Traum zu Alptraum gehen - sind sie die Gehilfen des Landvermessers K.?

Die Zuschauer treffen in »Kafkabagage« kaum auf die bekannten Versatzstücke des kafkaesken Kosmos, immer aber auf die die Handschrift des Autors, der sich mit knappen, fast hermetischen Sätzen selbst befragte. Die Textauswahl zieht so sehr in ihren Bann wie die dunklen, rätselhaften Szenen, die sich auf der sehr kontrastreich ausgeleuchteten Bühne zutragen. Odradek rückt in den Mittelpunkt, die Figur aus dem Kurztext »Die Sorge des Hausvaters«, ein Geschöpf, das ganz mechanisch zu sein, aber keinen Zweck zu besitzen scheint. Zuletzt hört man Kafkas letzten Wunsch an seinen Freund Max Brod, sein ganzes Werk zu vernichten. Das ist nicht geschehen – und das Figurentheater Tübingen lässt nun auf neue Weise eine Welt daraus entstehen. (GEA)