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Tragikomödie auf dünnem Eis: Thomas Bernhards »Vor dem Ruhestand« am LTT

Thomas Bernhard wühlte in seinen Stücken auf tragikomische Weise den braunen Bodensatz seiner österreichischen Heimat auf. Nun hat sich das LTT der Aufgabe gestellt, sein – nach eigenem Bekunden des Autors – »bestes Stück« neu zu inszenieren.

Pervers: Ein in die Jahre gekommener Alt-Nazi feiert Himmlers Geburtstag im Familienkreis. Szene mit Katja Uffelmann, Andreas Gu
Pervers: Ein in die Jahre gekommener Alt-Nazi feiert Himmlers Geburtstag im Familienkreis. Szene mit Katja Uffelmann, Andreas Guglielmetti, Susanne Weckerle und Mitgliedern des Chors aus Tübinger Bürgerinnen und Bürgern Foto: Tobias Metz/LTT
Pervers: Ein in die Jahre gekommener Alt-Nazi feiert Himmlers Geburtstag im Familienkreis. Szene mit Katja Uffelmann, Andreas Guglielmetti, Susanne Weckerle und Mitgliedern des Chors aus Tübinger Bürgerinnen und Bürgern
Foto: Tobias Metz/LTT

TÜBINGEN. Mit seiner neuesten Inszenierung auf der Werkstattbühne des Landestheaters Tübingen hat sich Intendant Thorsten Weckherlin auf dünnes Eis begeben. Denn er nahm sich mit Thomas Bernhards »Vor dem Ruhestand« eine Komödie vor, die eigentlich eine Tragödie ist. Wie so oft bei diesem Autor, der in seinen Stücken bitter-lustvoll den braunen Bodensatz aufwühlt, der in seinem Heimatland Österreich – und wahrlich nicht nur dort – giftige Blüten treibt.

Es geht in diesem Stück um einen Rudolf Höller (Andreas Guglielmetti), einst Lagerkommandant und SS-Offizier, danach bei seiner Schwester Vera (Katja Uffelmann) untergetaucht und ab Mitte der 1950er-Jahre Gerichtspräsident. Damit spielte Bernhard auf Hans Filbinger an, dessen Todesurteile als Marinerichter erst während seiner Zeit als Ministerpräsident von Baden-Württemberg offenkundig wurden und schließlich zu seinem Rücktritt führten.

Geister der Vergangenheit

Besagter Höller allerdings denkt nicht an Rücktritt. Doch sein Ruhestand dräut – und mit diesem die befürchtete Heimsuchung durch die Geister der Vergangenheit. Was ihn nicht davon abhält, zu Hause seine behinderte, politisch andersdenkende Schwester Clara (Susanne Weckerle) zu schikanieren und sich von der im Gestrigen schwelgenden Vera bedienen, auch inzestuös befriedigen zu lassen. Und einmal im Jahr eine Geburtstagsfeier für den NS-Verbrecher Heinrich Himmler auszurichten.

Die Ingredienzien für diese vom Autor als »Komödie« untertitelte Handlung sind also NS-Terror, Judenhass, Mord an Behinderten, Sehnsucht nach großdeutscher Vergangenheit. Gelebt von vermeintlich »anständigen« Altnazis, auf hohen Positionen in der Nachkriegsgesellschaft aktiv. Lässt es sich ernsthaft über so etwas amüsieren?

Unerbittliche Schärfe

Doch der Regie führende Intendant ist professionell genug, dass er hierbei nicht ausrutscht oder gar einbricht. Denn er geht Bernhards gewitzt gebildeten Klischees nicht auf den Leim, reißt die Abgründe hinter dem schwarzen Humor auf. Bei eher gedrosseltem Sprechtempo. Was aber Bernhards zynische Sentenzen umso mehr schärft und unerbittlicher wirken lässt. Und dem rhythmisch hoch differenzierten Text große Entfaltungsräume gibt.

Dafür wiederum braucht es Akteure, die jene großen Räume auch bespielen können. Und die hat das LTT, allen voran Katja Uffelmann als Vera. Toll, wie sie ihre Textmenge für diesen knapp dreistündigen Abend modelliert und gliedernd variiert. Wie sie im ersten Akt kaltschnäuzig wie die Frau des Auschwitzer Lagerkommandanten Rudolf Höß über Behinderte oder im Leben zu kurz Gekommene doziert und im dritten die Eva Braun im Führerbunker assoziieren lässt.

Protest aus dem Rollstuhl

Nicht minder eindringlich die Bühnenpräsenz von Susanne Weckerle als Clara, die aus ihrer an den Rollstuhl gefesselten Position dem anderen Geschwisterpaar den Spiegel vorhält und deren Selbstillusionen durch eisernes Schweigen und bohrende Blicke pulverisiert. Andreas Guglielmetti schließlich changiert als Alt-Nazi Höller zwischen weinerlichem Selbstmitleid, Unbelehrbarkeit und arrogant-selbstgefälliger Herrenmenschattitüde so überzeugend, dass es einen Frieren macht.

Vinzenz Hegemann unterstreicht mit Bühnenbild und Kostümen die Rückwärtsgewandtheit im Hause Höller, was genauso seitens der musikalischen Gestaltung durch Jörg Wockenfuß mit seinem lupenrein agierenden Kammerchor aus Tübinger Bürgerinnen und Bürger widergespiegelt wird. Eine Theaterproduktion also, wie sie in einer Zeit, in der erschreckend autoritäre Staatenlenker von Mehrheiten bewundert und Rechtsaußen-Positionen wieder gesellschaftsfähig geworden sind, nicht besser passen könnte. (GEA)