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Aktuell Oratorium

Tiefer Schmerz in edlem Klang: Matthäuspassion in der Tübinger Stiftskirche

Ein großartiges Meisterwerk: Bachs Matthäuspassion, aufgeführt durch den Südwestdeutschen Kammerchor mit dem Kammerchor Constant aus Köln in der Stiftskirche Tübingen, geleitet von Judith Mohr. Ein Kraftakt für alle Beteiligten.

Joachim Streckfuß (Mitte) und Richard Logiewa Stojanovic (rechts) in der Matthäuspassion.
Joachim Streckfuß (Mitte) und Richard Logiewa Stojanovic (rechts) in der Matthäuspassion. Foto: Susanne Eckstein
Joachim Streckfuß (Mitte) und Richard Logiewa Stojanovic (rechts) in der Matthäuspassion.
Foto: Susanne Eckstein

TÜBINGEN. Offenbar hat es sich herumgesprochen, dass eine hochkarätige Aufführung bevorsteht: Die Tübinger Stiftskirche erlebt einen ungewohnten Ansturm am Sonntagnachmittag, die letzten Eingelassenen suchen noch ihre Plätze, als die Dirigentin ihre Hände zum Auftakt hebt.

Judith Mohr, Professorin für Chorleitung an der Universität der Künste in Berlin, leitet neben dem in Tübingen beheimateten Südwestdeutschen Kammerchor auch noch den Kammerchor Constant in Köln. Beide kooperieren nun in Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion, die eine zweichörige Besetzung erfordert, ebenso ein doppeltes Instrumentalensemble, das hier vom Cölner Barockorchester gestellt wird.

Präziser Chor, zarte Flöten

Etwa hundert Choristen nehmen die Zuhörer unter Judith Mohrs entspannt-konzentrierter Leitung mit hinein in Bachs reiche Musikalität und das Passionsgeschehen; der große Chor erweist sich als rein, präzis und beweglich, zu Beginn ergänzt durch einen Kinderchor. Das »historisch« aufspielende doppelte Instrumentalensemble entfaltet zarten Klang, gerahmt von Traversflöten und Barockoboen, deren weicher Ton Gefühl und Reinheit andeutet.

Die singenden Akteure sind bewusst platziert: der Evangelist in der Mitte, der Jesus-Darsteller ganz vorn. Der Tenor Joachim Streckfuß präsentiert sich als lebhafter Erzähler, der Bass Richard Logiewa Stojanovic als majestätische Jesusfigur.

Dramatik und Einfühlung

In der Matthäuspassion wechselt das dramatische Geschehen von der Gefangennahme und dem Tod Jesu zwischen den biblischen Figuren und einer imaginären zuhörenden Person, die tief in den Inhalt einbezogen werden soll. Dies geschieht in Arien wie »Blute nur, du liebes Herz« oder »Mache dich, mein Herze, rein«.

Damit sind die Solisten als sensible Interpreten gefordert: Johanna Zimmer (Sopran), Marion Eckstein (Alt), Philipp Nicklaus (Tenor) und Daniel Weiler (Bass). Alle vier überzeugen in jeglicher Hinsicht: stimmlich, gestalterisch und im Ausdruck. Auch die Nebenfiguren im Chor haben Lob verdient.

Zwischen Arie und Gebet

Besonders eindrucksvoll gelingt der Chor »O Mensch, bewein dein Sünde groß« am Ende des ersten Teils, die Tenor-Arie »Geduld« mit Gambensolo und die Sopran-Arie »Aus Liebe will mein Heiland sterben«, umspielt nur von einer Flöte und zwei Oboen, als Kunstwerke zwischen Konzertarie und Gebet. In der dramatischen Endphase der Passion hat der Chor zwischen wildem Volkszorn (»Lass ihn kreuzigen!«) und ruhiger Andacht zu wechseln; hier beweist er Flexibilität, Schlagkraft und Durchhaltevermögen.

Zweieinhalb Stunden lang wird den Mitwirkenden musikalische Höchstleistung und tiefe Einfühlung abverlangt. Judith Mohr hat ganze Arbeit geleistet: Ihre Chöre zeigen sich bis zuletzt frisch und sicher. Nach dem Schlusschor »Wir setzen uns mit Tränen nieder« ist zunächst lange Stille in der Stiftskirche, bevor Applaus einsetzt und sich zu anhaltenden, teils stehenden Ovationen steigert. (GEA)