TÜBINGEN. Ein feines Gespür für das Zwischenmenschliche, das Verbindende wie das Trennende, das Ersprießliche wie das Abgründige, hat Anna Katharina Hahn stets in ihren Romanen bewiesen. In »Der Chor« (erschienen bei Suhrkamp), ihrem neuesten Werk, entwirft die Stuttgarter Schriftstellerin, die mit ihrem Roman »Am schwarzen Berg« 2012 auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse stand, ein scharfsinniges Gesellschaftspanorama.
Ein Stuttgarter Frauenchor wird dabei zum Ausgangs- und Kulminationspunkt für Zugewandtheit und Miteinander, aber auch für Erbarmungslosigkeit. Was die Autorin am Montagabend im Rahmen der Aktion »Leer_raum« in der Tübinger Stiftskirche vorstellte, waren Passagen aus dem Roman, die das andeuten.
Im Dunkeln
Weitgehend dunkel war es bei der Lesung in der leergeräumten Stiftskirche. Der Lesetisch, an dem neben Anna Katharina Hahn auch Inge Kirsner als Moderatorin Platz genommen hatte, befand sich im Kirchenraum unter der Orgelempore. Das Publikum saß auf Stühlen und Papphockern. Wenn Hahn und Kirsner miteinander sprachen, war etwas mehr Licht im Raum, konnte man neben den Worten auch das filigrane Deckengewölbe, in dem Licht und Schatten hart aufeinandertrafen, auf sich wirken lassen.
Alice heißt die Protagonistin, durch deren Augen man die Welt im Roman wahrnimmt. Sie ist Mitte 50, verheiratet, kinderlos, Personalchefin in einem großen Kaufhaus, in allem, was sie tut, sehr kontrolliert. Sie stammt aus ärmlichen Verhältnissen, worüber sie allerdings nicht spricht, weil sie es als Makel empfindet. Dabei hat sie aus eigener Kraft viel erreicht. Auffallend ist, dass sie die Chorschwester Cora, die einem ähnlichen Milieu entstammt, schlecht behandelt, um Distanz zu wahren.
Plötzliche Wortlosigkeit
Alice leidet darunter, dass Marie nicht mehr mit ihr spricht. Und das, obwohl das freundschaftliche Band, das sie im Frauenchor mit ihr geknüpft hat, unverwüstlich schien. Woher die plötzliche Wortlosigkeit zwischen beiden rührt, ist eine der Fragen im Roman, die für Spannung sorgen.
Als Alice bei einer Chorprobe - die Corona-Pandemie ist gerade leidlich überstanden - die scheu wirkende Studentin Sophie kennenlernt, weckt das mütterliche Fürsorgeinstinkte bei ihr. Oder ist es eine zarte Verliebtheit? »Ich will das gar nicht auflösen. Sie ist auf alle Fälle unglaublich fasziniert von Sophie und versucht, ihr näherzukommen«, sagte Anna Katharina Hahn bei der Lesung. Es sei auch eine literarische Anspielung auf »Alice im Wunderland«. Sophie sei für Alice wie das weiße Kaninchen, dem sie nachläuft, woraufhin sie in einen Schacht fällt.
Fragil und gerissen
Im Roman hat die Autorin Frauenfreundschaften mit ihren Tiefen und Untiefen zum Thema gemacht, »weil diese oft eine ganz wilde, leidenschaftliche Komponente haben«, so Anna Katharina Hahn im Gespräch mit Inge Kirsner. Zu den Hauptfiguren gehört auch Lena, die ebenfalls mit Alice befreundet ist. Sie ist nicht zuletzt durch ihr Alter fragil, in der Art und Weise, wie sie mit ihren Freundinnen - Wahltöchtern - spielt, aber auch »ganz schön gerissen«, so die Autorin. »Sie ist so ein bisschen wie eine Königin, die die Gaben verteilt.«
Die Literaturkritik sieht in Anna Katharina Hahns Roman eine subversive Kraft am Werk, mit der Milieus auseinandergenommen werden, und lobt die komplexe Erzählung voller märchenhafter Motive. (GEA)