REUTLINGEN. Was könnte besser zum Volkstrauertag passen als Trauermusik? Das Thomas-Selle-Ensemble hat sich an jenem Tag in ganz wunderbaren Klänge versenkt, in Musik, die für Trauer und Schmerz steht, die jedoch zugleich mit einer reichen Ästhetik aufwartet und von einer musikalischen Hingabe zeugt, wie sie solchen Anlässen würdig ist. Dieses eine Stündchen des Sonntagnachmittags in der Reutlinger Kirche St. Peter und Paul zu verbringen, hat sich allein schon wegen dieser vortrefflichen Musik gelohnt.
Man stelle sich eine lange, zeremonielle Prozession vor, gesäumt von unzähligen Menschen, eine Prozession zur Westminster Abbey für die jung verstorbene Queen Mary, begleitet von einem feierlichen Marsch Henry Purcells. In der Kirche dann weitere Musik Purcells, erhaben, einfach und ergreifend. Als »Music for the funeral of Queen Mary« wird sie heutzutage gerne so angeordnet, wie es diesmal geschah, drei Chorsätze, umrahmt vom Marsch, getrennt von der Canzona. Statt eines Blechbläserensembles war nur ein einzelner Bläser, zudem ein Grüppchen aus Streichern, begleitet von Orgel, anwesend. Auch ohne Staatsakt vermag diese Musik zu fesseln, insbesondere mit ambitionierten Sängern wie jenen des Thomas-Selle-Ensembles. Nikolai Ott hielt das alles zusammen, leitete überaus klar und strukturiert, gab präzise Einsätze und ließ alle Musiker diese Sorgfalt mittragen.
Zwei Lesungen und eine Zwischenstation
Zwei Lesungen und eine Zwischenstation »Gebet mit Segen« gliederten sich in die musikalischen Beiträge ein. Aus dem Buch der Prediger und im Psalm 90 sind die Sterblichkeit und Endlichkeit des Menschen thematisiert, und diesem Gedanken folgt freilich auch das »Requiem ex f« von Heinrich Ignaz Franz Biber, welches auf Purcells Musik folgte.
Auch hier wurde die Stimmung sehr gut vom Chor abgebildet und in einen warmen Klangkörper verpackt. Die Gesangssolisten kamen aus den Reihen des Chores, sodass ein fürwahr homogener Eindruck entstehen konnte. Bibers Wort-Ton-Verhältnis ist wesentlich, vom Text aus wird die Musik gestaltet, und diese Textausdeutung mittels Figuren und Affekten wurde unter Ott nicht zur Nebensache. Insbesondere im »Dies irae« wurden die Kontraste offenbar gemacht. Der Tag des Zorns in seiner zupackenden Entschlossenheit, das Zittern und Beben (»tremor«), gezeichnet durch die repetierenden Töne der Streicher, getragen auch von den einzelnen Stimmen der Sänger. Immer wieder waren packende und anregende Momente in einer klanglichen Besonnenheit und einer würdevollen Harmonie vorherrschend.
Macht der Musik
Auch Bibers Requiem als Totengedenken steht würdig da an jenem Tag des Gedenkens der Kriegsopfer, und gleichzeitig trägt seine und Purcells Musik auch eine andere Note mit sich, die der Versöhnung und des Einvernehmens, insbesondere mit Gott. Welch eine erhebliche Macht Musik doch hat! (GEA)