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Theater als Entgiftungsanstalt: »jedermann (stirbt)« auf der Tübinger Neckarinsel

Das Theater Lindenhof zeigt Ferdinand Schmalz' Drama »jedermann (stirbt)« als Tübinger Sommertheater und hält der Welt den Spiegel vor.

Die Figur Buhlschaft Tod (Linda Schlepps) hat Jedermann (Franz Xaver Ott) fest am Wickel.
Die Figur Buhlschaft Tod (Linda Schlepps) hat Jedermann (Franz Xaver Ott) fest am Wickel. Foto: Christoph B. Ströhle
Die Figur Buhlschaft Tod (Linda Schlepps) hat Jedermann (Franz Xaver Ott) fest am Wickel.
Foto: Christoph B. Ströhle

TÜBINGEN. Als »Ruinenerlebnis einer möglicherweise ruinösen gesellschaftlichen Entwicklung« ist Ferdinand Schmalz' Stück »jedermann (stirbt)« nach der Premiere im Sommer 2022 in der Ruine Hohenmelchingen beschrieben worden. Dass die Inszenierung von Hartmut Wickert für das Theater Lindenhof nun als Tübinger Sommertheater zurückkehrt, diesmal vom unverändert eindrucksvollen Ensemble auf der Neckarinsel gespielt (bis 3. August), mindert diesen Eindruck nicht. »Jedermann ist niemand, niemand anderes als wir«, heißt es an einer Stelle. Schmalz hält einer Gesellschaft, die im Leben alles berechnet, nur nicht, dass sie sterblich ist, den Spiegel vor und macht noch einmal in aller Drastik deutlich, dass es sich beim Leben um eine gepumpte Existenz handelt.

Einer, der seine Rechnung ohne den Tod gemacht hat, ist in Schmalz' Überschreibung des mittelalterlichen Mysterienspiels und von Hugo von Hofmannsthals »Jedermann« aus dem Jahr 1911 ein knallharter Geschäftsmann neoliberalen Zuschnitts. Franz Xaver Ott gibt ihm Großspurigkeit, Skrupellosigkeit, aber auch eine gewisse Angst vor Kontrollverlust. Dieser Jedermann feiert eine Gartenparty, wobei sich ungeladen »der arme Nachbar Gott« (Bernhard Hurm) und die »Buhlschaft Tod« (Linda Schlepps) unter die Festgesellschaft mischen.

In einer Festung

Wie eine Festung ist Jedermanns Haus und Garten gesichert, während draußen die Krisen (»jeder gegen jeden«) sich überschlagen und Kriegsrecht gilt. »Heut' soll's an nichts fehlen«, gibt er dennoch als Devise aus. Dass sich der unbekannte Eindringling, den seine dienstbaren Geister ihm melden, als harmlos erweist, ein armer Nachbar bloß, lässt ihn übermütig werden. Erst lässt er ihn für den Abend passend einkleiden, dann tut er ihm Gewalt an, damit dieser mit ihm trinkt. Eine »erzieherische Maßnahme in wirtschaftlichen Dingen« nennt Jedermann das. Denn gegen Geld als Mittel, mit dem er bisher noch jeden dazu gebracht hat, nach seinem Willen zu handeln, hat sich der Nachbar als immun erwiesen.

Der Vetter (Berthold Biesinger), an dem Jedermann ein ähnlich demütigendes Exempel statuiert, kehrt später als Verkörperung des Geldes zurück. Und als »Gute Werke«, hier »Charity« genannt. Da aber hat die Figur Buhlschaft Tod Jedermann schon am Wickel. »Das Leben schmeckt nach nichts ohne den Tod«, lässt sie ihn wissen, der bereits eingeschüchtert und kleinlaut geworden ist.

Präsenter Pulsschlag

Hartmut Wickerts Inszenierung setzt auf abrupte Tempo- und Stimmungswechsel, wobei immer ein Techno-Pulsschlag, den die DJs Julia Koch und Samuel Kübler variabel beisteuern, präsent bleibt. Auch sie tragen von Katharina Müller entworfene Kostüme, die bei dem stark aufspielenden Ensemble, zu dem auch Petra Weimer als Jedermanns Frau und Ursula Bürkert als Jedermanns Mutter gehören, in Summe das Festlich-Morbide betonen.

»In toxischen Zeiten braucht es das Theater als Entgiftungsanstalt«, hat Ferdinand Schmalz vor ein paar Jahren gesagt. In seinem »Jedermann« gilt dieser Entgiftungsversuch nicht zuletzt einem enthemmten Kapitalismus, dem hier die »teuflisch gute Gesellschaft«, verkörpert von Rino Hosennen, Hannah Im Hof und Luca Zahn, das Wort redet und die in der Figur des Jedermann einen Verbündeten hat. Bis diesen, durchgeschüttelt wie ein Sparschwein, das nackte Grauen erfasst, beziehungsweise er sich in sein Ende fügt. Sein Tod geschieht auf der Bühne dann eher beiläufig. (GEA)