REUTLINGEN. »Zum Ersten. Zum Zweiten. Zum Dritten!« Der Hammer saust nieder, trifft aber kein Auktionspult, sondern einen hölzernen Notenständer, weshalb Auktionator Alexander Schulze nur sanft zuschlägt. Das Ganze spielt auch nicht in einem Auktionshaus, sondern am Samstagabend in der Marienkirche. Und die Dame in Rot hat auch keinen Picasso erworben, sondern ein Privatkonzert.
Die Kirchengemeinde hatte zur »Organistenversteigerung« geladen. Eine Idee des Fundraisingteams der Kirche. Vier Orgelvirtuosen bieten ihre Dienste zum Ersteigern: Kantor Torsten Wille, sein Vorgänger Eberhard Becker sowie die versierten Jungkräfte Tim Krüger und Kai Dolde. Der »Kaufpreis« wandert nicht in ihre Taschen, sondern in den Topf für die anstehende Sanierung und Erweiterung der Rieger-Orgel in der Marienkirche. »Sie können eine Spendenquittung bekommen«, klärt der Auktionator auf. Das ist bei Auktionen sonst eher unüblich.
Schulze ist Auktionator aus Tübingen und findet die Situation »schon ein bisschen seltsam«. In einer Kirche versteigere er sonst nie. Dazu die Corona-Situation mit maskierten Auktionsgästen. Das mache es schwieriger, »eine Auktion ist ja Psychologie, ich schaue immer, wo sich vielleicht gerade jemand zu einem Gebot durchringt«.
Der Kreislauf streikt
Interessant ist das Ganze allemal, auch wenn Schultz klarstellt: »Ich versteigere hier keine Menschen.« Sondern Auftritte. Es hätte ein amüsanter Abend werden können, auch wenn die Runde mit etwa zwanzig Gästen sehr überschaubar ist. Doch dann funkt plötzlich der Ernst des Lebens dazwischen. Tim Krüger, einer der beiden Jungorganisten, bekommt Kreislaufprobleme. Die Gewitterschwüle des Tages im Verbund mit der Konzentration des Auftritts fordert offenbar ihren Tribut. Bis der Rettungsdienst eintrifft, bewährt sich Elke Keck, Frau des Oberbürgermeisters und ausgebildete OP-Schwester, als Ersthelferin.
Dabei hatte der Musikstudent Krüger zuvor einen formidablen Auftritt hingelegt. Nach einem dramatisch ausgreifenden Intro von Kantor Wille mit Bachs c-Moll-Passacaglia schlug er leichtfüßigere, verspieltere Töne an. In einer Triosonate desselben Komponisten schickt er sein Spiel frisch und heiter-beschwingt in den Saal, um das Publikum zum Bieten zu ermuntern. Für 120 Euro sichert sich anschließend eine Besucherin seine Dienste für ein Privatkonzert. »Ich kann mir so ein Konzert prima vorstellen«, schwärmt Auktionator Schulze – und malt sich aus, im Kirchenschiff ein Sofa aufzustellen, den Sakralraum zum Wohnzimmer umzufunktionieren. »Man müsste klären, ob das erlaubt ist.«
Als Nächster stellt Altkantor Eberhard Becker seine Künste vor. Der Barockexperte bringt eine Rarität mit: drei Sätze aus dem Zyklus »Veni Creator« (»Komm, Schöpfer«) des Franzosen Nicolas de Grigny (1672–1703). Wie in einem Tanz umkreisen sich da ein hohes helles und ein tiefes dunkles Zungenregister. In weiten Bögen entwickelt Becker die oboenartige Melodielinie des zweiten Satzes. Ehe im dritten die »Grands Jeux«, die vollen Orgelwerke, in majestätischer Pracht erstrahlen. Da sitzen die Geldbeutel schon lockerer; die Dienste des Altstars gehen für 200 Euro weg. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich ihn so günstig kriege«, jubelt die Gewinnerin anschließend. »Ich finde sein Orgelspiel einfach toll!«
Kai Dolde, im Hauptberuf Physiker, schlägt auf der Rieger-Orgel ganz andere Töne an. Mit der Filmmusik von John Williams lässt er die magischen Eulen aus dem ersten »Harry Potter«-Film fliegen. Hohe Flötentöne flimmern wie Sternenstaub am Tonleiterhimmel, nehmen Fahrt auf, schließlich braust ein wahrer Orgelsturm durch den Kirchenraum und trägt uns fort in J. K. Rowlings Fantasiewelt. Sein Angebot für ein Privatkonzert geht für 130 Euro weg – sein Publikum will Dolde dabei auf eine »musikalisch-physikalische Erlebnisreise« mitnehmen.
Nach der notfallbedingten Unterbrechung ist eine Versteigerung des musikalischen Hausherrn Torsten Wille zeitlich nicht mehr drin. Immerhin kann Tim Krüger danach die steile Wendeltreppe von der Orgelempore schon wieder alleine bewältigen, ehe ihn die Rettungskräfte zum Durchchecken mitnehmen.
Tröstliches zum Abschluss
Ein Orgelstück zum Ausklang lässt sich Wille aber doch nicht nehmen. Eigentlich habe er »The Final Countdown« auf dem Zettel, verrät er, »aber das ist mir in dieser Situation zu triumphal«. Er werde stattdessen etwas improvisieren, was besser zum Moment passe. So setzt sich Wille an die Orgelbank und schickt, aus dem Augenblick geboren, Musik in den Raum, die wunderbar die Stimmung im Saal spiegelt: nachdenklich und irgendwie tröstend.
Eine Viertelstunde später ist er dann schon in der nächsten Veranstaltung gefragt. Diesmal, um die groben Scherze des frühen Charlie Chaplin im Streifen »His New Job« zu untermalen. Mehr Publikum füllt nun die Bänke, auch viele Kinder darunter. Immer wieder gibt es Gelächter, wenn Chaplin bei seinem ersten Arbeitstag in einem Filmstudio ruppig unter dem Filmpersonal aufräumt und am Ende alle außer ihm k.o. am Boden liegen. Wozu Wille den frech sprudelnden, zwischendurch auch mal etwas verliebten Soundtrack an der Orgel ausbreitet. In der Tat ein Instrument für alle Fälle. Das an diesem Abend seiner Sanierung ein paar Hundert Euro nähergekommen ist. (GEA)