STUTTGART. Nach zwei Klassikern und dem Familienstück »Der Nussknacker« gibt’s im Stuttgarter Opernhaus endlich wieder Ballett zum Mitdenken: Der Abend »Mahler x drei Meister« vereint zwei der ersten Ballette zu Musik von Gustav Mahler mit John Crankos seit 50 Jahren nicht mehr aufgeführten »Spuren«, dem ersten Ballett, das sich in Deutschland mit den Nazis auseinandersetzte. Es ist ein Abend, der ohne große Ausstattung, allein in klassischem Tanz und in klaren, dunklen Bildern über Vergänglichkeit und Tod nachdenkt, über die letzten Dinge.
Zweimal wird zu gesungener Musik getanzt, und zweimal inspirierten diese Lieder die Choreografen zu Todesfiguren. In Kenneth MacMillans »Das Lied von der Erde«, von Stuttgart aus zum Klassiker geworden, schreitet eine maskierte Schicksalsfigur unter den Menschen und holt sie aus dem heiteren Leben weg. Die einstündige Vokalsinfonie zeigt die Vergänglichkeit des Einzelnen vor der Ewigkeit der Natur. Die erscheint hier immer wieder in choreografierten Bildern, als schwankende Schilfrohre oder wenn die weibliche Hauptfigur, vereinsamt unter den Menschen, wie ein Blatt über die Bühne weht. Ballettdirektor Tamas Detrich hat das Werk bis in kleinste Rollen erlesen besetzt. Jason Reilly kämpft zuerst verzweifelt gegen den Maskierten und ergibt sich dann müde, wissend dem Abschied von der Welt. Als Todesbote ist David Moore nicht unbedingt die »wild gespenstische Gestalt« aus Hans Bethges Text, er holt seine Opfer eher sanft.
Doppelgänger und Seelenführer
Maurice Béjart hat sehr viel zu Mahler choreografiert, seine »Lieder eines fahrenden Gesellen« gehören fest zum Stuttgarter Repertoire und erstrahlen hier in einer neuen Interpretation der jungen Generation. Dem wandernden Jüngling, diesem geliebten Topos der Romantik, stellt Béjart in seinem intensiven Pas de deux einen Doppelgänger zur Seite. Dieser Meister zwingt den Suchenden in Rorschach-artigen Spiegelungen oder unerbittlichen Attacken zum Dialog mit sich selbst, zerstört die Illusionen.
Aufführungsinfo
Weitere Aufführungen gibt es am 18. Januar, 1., 6., 14., 19., 26. Februar und 2. März. www.stuttgarter-ballett.de
Der junge Henrik Erikson, der bis jetzt vor allem mit schöner Tanztechnik überzeugte, feiert hier seinen Durchbruch als empfindsamer Interpret, Martí Paixà funkelt dämonisch als Seelenführer. Für die detaillierte, kluge Einstudierung zeichnet Gil Roman verantwortlich, einer der legendären Tänzer aus Béjarts Kompanie. In beiden Werken endet das Verlorensein der Menschen mit einem Akzeptieren, einer wissenden Demut vor dem Tod – mit tröstlichem Im-Arme-Wiegen und Vorwärtsschreiten bei MacMillan, bei Béjart mit einer letzten Abschiedsgeste des Gesellen, bevor ihn der Tod ins Dunkel mitnimmt.
Ballett im Gefangenenlager
John Crankos »Spuren« zeigt das, was ein KZ oder ein Gulag in der Seele der Gefangenen zurücklässt. Kann ein Mensch diesen Horror je vergessen? Als die 68er-Generation die Schuld der Väter aufarbeitete und ein halbes Jahr, bevor Pina Bausch in Wuppertal ihr Tanztheater gründete, wandte sich John Cranko 1973 in einem seiner letzten Stücke gegen die Gräuel der Diktaturen, noch mit klassischen Schritten. Inmitten einer ignoranten Gesellschaft erinnert sich eine Geflohene ans Lager, düster kommen die gequälten, geschorenen Gefangenen von allen Seiten, stehen plötzlich fast nackt im hellen Licht. Auch diese Rolle kreierte, wie die Solistin im »Lied von der Erde«, einst Marcia Haydée, zu deren Wiedergängerin sich Elisa Badenes immer mehr entwickelt. Ohne je das unerreichbare Vorbild zu kopieren, gehört die Spanierin heute zu den großen dramatischen Ballerinen ihrer Generation. Mikhail Agrest dirigierte im ersten Stück erneut zu schnell, die Gesangssolisten blieben bis auf den Bariton Yannick Debus sehr mittelprächtig. (GEA)