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Tübinger Kantor legt Dissertation zu Johann Sebastian Bach vor

Es ist ein Wälzer von über 500 Seiten, erschienen im renommierten Bärenreiter-Verlag: Der Tübinger Stiftskirchen-Kantor Ingo Bredenbach hat eine Dissertation zu Johann Sebastian Bach vorgelegt. Seine Frage: Woher hatte Bach eigentlich sein Kompositionswissen?

Der Autor und sein Werk: Ingo Bredenbach mit seiner Publikation vor der Tübinger Stiftskirche.
Der Autor und sein Werk: Ingo Bredenbach mit seiner Publikation vor der Tübinger Stiftskirche. Foto: Armin Knauer
Der Autor und sein Werk: Ingo Bredenbach mit seiner Publikation vor der Tübinger Stiftskirche.
Foto: Armin Knauer

TÜBINGEN. Eigentlich ist Ingo Bredenbach, Jahrgang 1959, aus dem typischen Studentenalter raus. Und doch hat sich der Tübinger Stiftskirchenkantor 2021 noch einmal an der Uni eingeschrieben. Um eine Doktorarbeit anzufertigen. Wer Bredenbach kennt, wird nicht überrascht sein, dass Johann Sebastian Bach das Thema ist. Der Leipziger Thomaskantor samt seiner Musik ist Bredenbachs Leidenschaft.

Buchinfo

Das Buch »Johann Sebastian Bachs Clavierunterricht - Bach als Lernender und Lehrender« von Ingo Bredenbach ist im Bärenreiter-Verlag in Kassel erschienen. Das Buch in Hardcover-Bindung umfasst 519 Seiten mit zahlreichen Notenbeispielen und kostet 59 Euro. (GEA)

Aber wie kam es, dass der vielbeschäftigte Kirchenmusiker sich an das 519-seitige Mammutwerk machte? War es womöglich die erzwungene Untätigkeit in der Corona-Phase? Nein, die Sache fing schon viel früher an. Letztlich gab das Tübinger Bachfest 2018 den Anstoß.

Das Bachfest nach Tübingen zu holen, war Bredenbachs lang gehegter Traum. Als klar war, dass es klappen würde, startete Bredenbach als klingenden Countdown einen mehrjährigen Zyklus, in dem er sämtliche Bach'schen Orgelwerke spielte. »Um mir darüber klar zu werden, wie das zu spielen war, habe ich viele der Werke analysiert«, erzählt der Barockfachmann. Der Countdown endete, das Bachfest ging mit rauschendem Erfolg über die Bühne - und Bredenbach stand mit einem Stapel Werkanalysen da. »Da hat meine Frau gesagt, mach doch da was draus, zum Beispiel eine Diss.«

»Um mir darüber klar zu werden, wie diese Musik zu spielen ist, habe ich viele der Werke analysiert«

Dazu hatte Bredenbach große Lust, denn in seinen Analysen steckte auch ein großes Fragezeichen. All die Kunstgriffe in diesen Kompositionen - woher hatte Bach die eigentlich? Klar, es gab ein festes System an Regeln für diese Art polyfoner Tastenmusik zu Bachs Zeit. Die bekam man im Orgelunterricht beigebracht, an der Schule. Der junge Bach also von seinem 13 Jahre älteren Bruder Johann Christoph Bach, der ihn an der Orgel unterrichtete, am Lyzeum in Ohrdruf, später an der Michaelisschule in Lüneburg.

Johann Sebastian Bach auf einem Gemälde von Elias Gottlob Haussmann von 1746.
Johann Sebastian Bach auf einem Gemälde von Elias Gottlob Haussmann von 1746. Foto: Nicht angegeben
Johann Sebastian Bach auf einem Gemälde von Elias Gottlob Haussmann von 1746.
Foto: Nicht angegeben

Nur: Das Charakteristische an Bachs Musik ist, wie Bredenbach erklärt, dass er immer wieder bewusst gegen diese Konventionen verstößt. Um den Hörer zu überraschen. Um Stücke zu gliedern. Um durch »sprechende« Figuren die musikalische Aussage zu unterstreichen. Bekanntestes Beispiel ist der »passus duriusculus«, der »harte Gang«, bei dem die Basslinie entgegen der üblichen harmonischen Abfolge in Halbtonschritten auf- oder absteigt - oft, um ein schmerzliches Geschehen wie die Kreuzigung Jesu zu illustrieren. Wo und von wem Bach die Regeln lernte, ist klar; doch wie lernte er das gezielte Abweichen von der Norm? Bei wem hat er sich das abgeschaut?

»Der junge Bach hat diese Stücke zweifellos zu Studienzwecken für sich kopiert«

Viel wurde spekuliert, lange war nicht klar, welche Werke berühmter Kollegen der junge Bach eigentlich kannte. Doch seit einigen Jahren weiß man, dass er zwei überaus ambitionierte Stücke seiner Zeit handschriftlich kopiert hat: die Choralfantasie »An Wasserflüssen Babylon« des Hamburger Komponisten Johann Adam Reincken; und die Choralfantasie »Nun freut euch, lieben Christen g'mein« des Lübecker Organisten Dietrich Buxtehude. Für den Gebrauch im Gottesdienst kann er das nicht gemacht haben, wie Bredenbach erklärt: Solche ausgedehnte Stücke waren in Thüringen dort nicht vorgesehen - anders als in Hamburg und Lübeck. Der junge Bach habe sie daher zweifellos zu Studienzwecken kopiert. Womit Bredenbachs These steht: Bach habe sich den Feinschliff seiner Kunst geholt, indem er beispielhafte Werke berühmter Kollegen kopierte und dabei analysierte.

Doch was genau fand der junge Bach beim Studium solcher Werke? Um das herauszufinden, hat Bredenbach die beiden Choralfantasien von Reincken und Buxtehude analysiert, von der Großgliederung bis ins Detail. Wobei er immer wieder auf Kunstgriffe stieß, die sich später in den Werken Bachs finden - oft verfeinert, noch kühner sich über Konventionen hinwegsetzend. »Es ging Bach um 'imitatio, aemulatio et superatio', wie man damals sagte: darum, die Vorbilder zunächst zu imitieren, ihre Ansätze weiterzuentwickeln und sie schließlich zu übertreffen«, erklärt Bredenbach.

»Bach war ein lebenslang Lernender. Noch mit 55 hat er die Musik Palestrinas für sich entdeckt«

Wer sich auf die Lektüre einlässt, findet sich mittendrin im Kompositionshandwerk des 17. Jahrhunderts, für das Phänomene wie der »doppelte Kontrapunkt der Oktave« eine Selbstverständlichkeit waren. Das sind sie heute nur noch für Experten. Trotzdem ist es faszinierend, Bredenbachs Analysen zu folgen. Man bekommt dabei das Gefühl, dem jungen Bach bei seinem Selbststudium über die Schulter zu schauen. Was aus Bredenbachs Sicht zum Kern von Bachs Selbstverständnis führt: »Bach war ein lebenslang Lernender«, erklärt er. »Noch 1740, mit 55 Jahren, hat er die Musik Palestrinas für sich entdeckt.«

Nicht nur bei den Kollegen in Norddeutschland hat der junge Bach sich Dinge abgeguckt; auch die Meister Italiens hat er studiert. Auch das analysiert Bredenbach. Musik von Arcangelo Corelli, Giuseppe Torelli, Tomaso Albinoni oder - einige Jahre später erst - von Antonio Vivaldi. Bach, der rein physisch über Mitteldeutschland kaum je hinauskam, hat, das macht Bredenbachs Dissertation klar, systematisch Einflüsse aus Frankreich, Italien, Nord- und Süddeutschland und Österreich aufgegriffen. Wofür er sich des aufkommenden Notenhandels bediente, teils auch privater Beziehungen. Auch hier zeigt Bredenbach mit Werkanalysen, wie Bach zu einem musikalischen Europäer wurde. So findet sich bei Bach das gezielte Arbeiten mit rhythmisierten harmonischen Flächen, das er von Torelli, Corelli und später auch Vivaldi übernommen und weiterentwickelt hat.

»Es ist wohl der Traum eines jeden Organisten einmal eine Unterrichtsstunde von Bach zu bekommen«

Bach war jedoch nicht nur ein lebenslang Lernender, sondern auch ein (fast) lebenslang Lehrender. Das zu thematisieren, war Bredenbach ein großes Anliegen: »Es ist wohl der Traum eines jeden Organisten, einmal eine Unterrichtsstunde von Johann Sebastian Bach zu bekommen.« Tatsächlich hat Bach nicht nur seine Söhne unterrichtet, sondern auch eine große Zahl weiterer Schüler. Das Unterrichtsmaterial dafür hat er in großem Stil selbst entwickelt. Vor allem ist hier das »Clavier-Büchlein vor Wilhelm Friedemann Bach« zu nennen, so der Originaltitel. Eine Sammlung, die den ältesten Bach-Sohn systematisch vom Einfachen zum Komplexen führen sollte. Und aus der später nicht nur die berühmten »Inventionen« und »Sinfonien« hervorgegangen sind, aus denen auch heute noch Klavierschüler das Tastenhandwerk lernen; viele weitere Stücke tauchen als Präludien im »Wohltemperierten Clavier« wieder auf.

Wichtig ist Bredenbach, dass die Art, wie Bach selbst sich sein Können aneignete, sich in seiner Lehrmethode spiegelt. Bach sei es um mehr gegangen, als dass seine Schüler flüssig die Noten abspielen, betont Bredenbach. Wie seinerzeit er selbst in den Werken Reinckes oder Buxtehudes sollten seine Schüler in diesen Inventionen und Präludien Muster erkennen. Um sie im nächsten Schritt selbst kreativ einzusetzen, sei es in der Improvisation, sei es in der Komposition. Für Bach und seine Zeitgenossen seien Komposition und Improvisation ohnehin dasselbe gewesen, erklärt Bredenbach. Das Erarbeiten eines Stücks sei für Bachs Schüler daher immer auch eine Anleitung zum Komponieren oder Improvisieren gewesen. Diesen ganzheitlichen Blick auch heute wieder in den Klavier- oder Orgelunterricht einfließen zu lassen, davon träumt Bredenbach. Davon lässt er sich als Orgellehrer, der er ja auch ist, inspirieren.

»Bach machte zwischen Kunstmusik und Werken für den Unterricht keinerlei Unterschied«

Was Bredenbach dabei an Bach fasziniert, ist, dass dieser zwischen Werken für den Unterricht und Kunstmusik keinerlei Unterschied machte. Wenn manche seine Inventionen als reine Übungsstücke abtun, wird ihnen das nicht gerecht. Und spätestens bei den dreistimmigen Sinfonien und den Präludien und Fugen im »Wohltemperierten Clavier« ist die Frage, ob sie als Kunstmusik oder als Studienwerke gemeint sind, nicht beantwortbar. Für Bach, das ist das faszinierende Fazit von Bredenbachs Studie, war Lernen Komponieren und Komponieren war Lernen. Eine Sichtweise, die heute wieder überaus modern wirkt. (GEA)