TÜBINGEN. Alles scheint offen zu Beginn von Joachim Zelters neuem Roman »Staffellauf«. Es sind die frühen 1960er-Jahre, die junge Bernadette studiert Kunst in Freiburg, sie lebt, kocht und malt in ihrem Atelier und fühlt sich frei. Doch das Freiheitsversprechen ihres Ateliers löst sich nicht ein. Sie schliddert in eine Ehe mit dem gutbürgerlichen Juristen Karl Staffelstein und findet sich in einem Gefängnis von Konventionen, das ihr jeden Lebensmut nimmt.
Ihren Kindern scheint sie den Staffelstab des Unglücks weiterzugeben. Wie sollen sie an sich glauben können mit einer depressiven Mutter, einem hilflosen Vater und einer arrogant-herablassenden Großmutter aus altem Bildungsadel? Und doch scheint es, als könne Jakob, der Älteste, den Fluch hinter sich lassen. Eine Karriere öffnet sich ihm. Nur dass auch diese Karriere ihn wieder in einen Käfig von Konventionen führt. Ins Gefängnis eines falschen Lebens. Blüht ihm also dasselbe Schicksal wie seiner Mutter?
Viele Motive, die bei dem Tübinger Autor Joachim Zelter immer wieder wichtig sind, tauchen auch hier auf. Das morbide Porträt eines überlebten Bildungsadels. Die Frage, wie Künstlertum im realen Leben möglich ist. Das Verhältnis von Wahrheit und Lüge und ob man letztere nicht braucht, um seine Würde zu bewahren. Es ist insofern, das schreibt Zelter selbst, auch ein Staffellauf durch Motive seiner früheren Bücher. Bis hin zur Rennradfahrer-Thematik von »Im Feld«, wo es darum ging, sich in eine Sache so hineinziehen zu lassen, dass man nicht mehr nach ihrem Sinn fragt.
So ist vieles sehr Zelter-typisch an dem Buch. Die leicht kafkaeske Atmosphäre. Der knappe, äußerst präzise Sprachstil. Die zwischen Nähe und Distanz schwankende Beobachtung der Personen. Ein Grundton zwischen Melancholie und parodierender Überzeichnung.
Soghafter Erzählfluss
Zelter entfaltet das einmal mehr in einem soghaften Erzählfluss, der einen sofort in den Bann zieht, zum Ende dieser knappen 180 Seiten hin.
Und doch spürt man jenseits dieser soghaften Dichte auch etwas Disparates und Mäanderndes in dem Buch. Was mit dem Thema zusammenhängt. Zelters Figuren, Bernadette und Jakob, suchen nach ihrem Platz im Leben. Der Roman selbst wiederum sucht auch, macht das Suchen zum Thema und praktiziert es dabei selbst. Wechselt nicht nur zur Mitte die Hauptfigur, sondern nimmt immer wieder Anläufe. Findet neue Themen, in die er sich zeitweilig verbeißt. Um sie weiterzuverfolgen oder gegen neue auszutauschen. Was für Überraschungen sorgt. Und neben Tragik auch immer wieder für Komik – auch das Zelter-typisch. Es ist ein Roman über die Freiheiten, die das Leben bietet – und die Zwänge, denen es uns aussetzt. Ein Roman auch über den Konflikt von Familientraditionalismus und Künstlertum. Und letztlich über die Möglichkeit des Künstlertums schlechthin in einer Welt, die eben nicht aus Ideen, sondern aus realen Dingen und Strukturen und Personen besteht. Was Zelter unverkennbar auch auf die eigene Situation als Autor münzt. Geht es doch im zweiten Teil nicht zuletzt auch um die Schriftstellerei als Romanautor.
Scharfsinnig gezeichnet
So hat der Roman in seinem mäandernden Kurven zuweilen etwas Disparates. Doch wie er Künstlertum, Akademikerbetrieb und den Literaturbetrieb einerseits bestechend scharfsinnig zeichnet, andererseits mit leiser Ironie parodiert, ist große Klasse. So lässt er die Frage, was denn nun genau ein Meisterwerk der Kunst ist, ausgerechnet von Patienten einer psychiatrischen Klinik diskutieren. Ob sein eigenes Buch ein Meisterwerk ist? Es passt jedenfalls prima in sein schlüssiges, dichtes Oeuvre hinein. (akr)