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Strophenlied in neuem Licht

TÜBINGEN.Schlichte Vortragsweise, einfache Komposition und sich wiederholend – so schnell kann die Gattung »Lied«, vor allem das Strophenlied, in einer Schublade landen, aus der sie oft nur schwerlich wieder herauszuholen ist.

Wer am vergangenen Samstagnachmittag im Rahmen der zweiten Tübinger Silcher-Tage gehört hat, was der Knabenchor Capella Vocalis aus dem scheinbar einfachen Liedgut Friedrich Silchers (1789 – 1860) geformt hat, dem mag ein Überbordwerfen dieses Klischees ein Leichtes gewesen sein. Im Festsaal der Neuen Aula präsentierte der Chor unter dem Konzerttitel »Der Liebe Macht« insgesamt fünfzehn Lieder, hauptsächlich von Silcher selbst, ergänzt durch Liedkompositionen einiger seiner Zeitgenossen.

Silchers Liedschaffen stand der Capella Vocalis ausgesprochen gut. Wie sonst auch gelang es dem Chor, aus schlichter, wenngleich gehaltvoller Musik wahre Meisterwerke erstrahlen zu lassen.

Einen faszinierenden Anstrich erhielt nicht zuletzt »Sah ein Knab ein Röslein stehn«. Der Text Johann Wolfgang von Goethes im musikalischen Mantel Heinrich Werners (1800 – 1833) und in der Interpretation der Capella Vocalis war eine herausragende Mischung. Christian Bonath, der musikalische Leiter des Knabenchores, verstand es, den Sinngehalt des Liedes in sensibler Weise und mit einfachen Mitteln musikalisch auszudrücken.

Differenzierte Gestaltung

Wer den Chor kennt, der weiß, dass es für Bonath nicht ungewöhnlich ist, vor allem die scheinbar einfache Musik durch differenzierte Agogik, Dynamik und Intensität der Aussprache zu beleben. Der vom Röslein faszinierte Knab' war jedoch eine besondere Meisterleistung: Aufmalen romantischer Szenerie, impulsiver Dialog sowie mitreißende Handlung – und das alles in gerade einmal drei musikalisch identischen Strophen. Wie immer gelang es der Capella, Musik zum Leben zu erwecken, ohne jedem Vorwurf der Übertreibung Raum zu bieten.

Natürlich komponierte und arrangierte Silcher nicht nur Lieder für Chor. Jan Jerlitschka (Alt) sowie die beiden Knabensopranisten Til Krupop und Daniel Merkt bereicherten das Konzert, begleitet vom Flügel, mit verschiedenen Solo-Stücken.

Ergänzt wurde das Programm zudem von kleinen Liedkompositionen Johannes Brahms' (1833 – 1897) und Engelberg Humperdincks (1854 – 1921). Zwar führe der Chor, wie Bonath vor den Zugaben feststellte, zu 95 Prozent geistliche Werke auf, doch freue man sich umso mehr zu so einer besonderen Gelegenheit einmal Capella-untypische Literatur zum Besten zu geben. Eine Musik, die zwar in der Tat nicht für die großen Konzertsäle gedacht ist, und deren Quantität weit hinter derjenigen großer Sinfonien oder Kantaten zurückbleibt. Dennoch bleibt bei aller Schlichtheit der Eindruck einer großartigen Musik zurück, die, unterstützt durch eine durchdachte Interpretation, auch ein musikalisch anspruchsvolles Publikum begeistern kann. (GEA)