TÜBINGEN. Bei der Premiere von Nino Haratischwilis »Löwenherzen« beim Jungen LTT Tübingen am Freitagvormittag waren zahlreiche Schulklassen zu Gast – viele von ihnen mit eigenen Stofftieren im Arm. Ein passendes Bild, denn im Mittelpunkt steht ein Stofflöwe, der eine weltumspannende Reise antritt. Die Inszenierung von Mia Constantine nimmt das Publikum mit auf eine bewegende Reise, die kindliche Perspektiven auf globale Themen in den Fokus rückt. In verschiedenen Rollen sind Yaroslav Somkin, Sophie Aouami und Michael Mayer zusehen.
Reise voller Schicksale
Die Geschichte beginnt in einer Fabrik in Bangladesch, wo der achtjährige Anand den Löwen näht. Überzeugt, dass Gott in Europa lebt – dort, wo es Smartphones, Schokolade und Geschenke zu Weihnachten gibt – versteckt er einen Brief in dem Stofftier. Der Löwe soll ihn an Gott überbringen. Doch bevor Anand den Brief vorlesen kann, wird er vom Fabrikbesitzer, dargestellt durch einen riesigen Pappfuß und eine Stimme aus dem Off, angetrieben, den Löwen schnell fertig zu nähen. So beginnt die Reise des Löwen um die Welt. Durch übergroße Pappfiguren (Ausstattung: Johann Brigitte Schima) wirkt die Welt der Erwachsenen unnahbar und bedrohlich. Die Kinder stehen im Zentrum des Stücks.
Nun lernt das Publikum Emma kennen. In einem Brief erklärt sie ihre Gefühle. Früher war die Familie glücklich, bis sie umgezogen sind, die Mutter die Arbeit verlor, die Eltern sich entfremdet haben. Durch den Brief wird den Eltern bewusst, dass Emma ihre Streitereien mitbekommen hat; sie entschließen sich miteinander zu reden. Die Situation, dass sich Eltern streiten und auch trennen, kennen viele Familien; aus der kindlichen Perspektive wirkt das noch schmerzhafter. Durch Emmas Spende landet der Löwe im Senegal. Dort fungiert er für ein Mädchen als Mutmacher, das ihn an Kiano weiterschenkt, der Angst vor seinem Vater hat.
Kindliche Perspektiven auf ernste Themen
Kiano verschenkt ihn wiederum an Amari, der mit seiner Familie auf einem Boot nach Euro flieht. Auf dem Schiff begegnet er Vanya, die einen Stoffelefanten dabeihat. Die beiden spenden sich gegenseitig Mut. Als beide Stofftiere ins Meer fallen, verlieren sie einen wichtigen Begleiter – doch sie gewinnen eine neue innere Stärke. Hier erinnert die Inszenierung daran, dass sich hinter den oft anonymen Bildern von Flüchtlingsbooten in den Nachrichten wahre Schicksale verbergen.
In Frankreich wird der Löwe zum Glücksbringer der jungen Pianistin Louise. Ihre Begegnung mit dem Fotografen Alex offenbart eine weitere Facette des Stücks: den Umgang mit der medialen Darstellung von Kindern. Alex versucht, Louise aus der Reserve zu locken, doch sie bleibt distanziert – bis die beiden die Rollen tauschen und sie von ihrem Stofflöwen erzählt, der ihr Sicherheit gibt. Es wird klar: beide sind nicht glücklich. Louise würde lieber zu Rockmusik tanzen; Alex ist traurig, weil seine Freundin und er keine Kinder bekommen können. Louise schenkt Alex den Löwen, der ihr die Kamera mit den Bildern von ihr darauf. Sie soll selbst entscheiden, was mit den Bildern passiert.
Rührendes Finale
In der folgenden Szene sieht man Aouami auf der Bühne. Rechts von der Bühne stehen Michael Mayer und Yaroslav Somkin in Astronauten-Anzügen. Sie unterhalten sich als Föten, die in drei Wochen geboren werden sollen. Es stellt sich heraus, dass die Frau auf der Bühne die Mutter von Anand ist, die wiederum die Leihmutter von Alex und seiner Freundin ist. Dieser hat ihr neben Geld und Geschenken auch den Stofflöwen gegeben. So kehrt der Stofflöwe am Ende zu Anand zurück. Der Junge freut sich, seinen Löwen wiederzusehen, und fragt ihn nach der Antwort Gottes auf all seine Fragen. Trotz Happy End bleibt ein bitter-süßer Nachgeschmack. (GEA)