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Stephan Wehrles Orchester-Hommage an Reutlingen uraufgeführt

Reutlingen hat seine eigene abendfüllende Tondichtung: Die Uraufführung von Stephan Dominikus Wehrles Orchesterwerk »Die sieben Tore von Reutlingen« verortet die Achalmstadt zwischen Tolkiens Auenland und Beethovens Fünfter.

Komponist Stephan Dominikus Wehrle und die Sinfonia Reutlingen nach der Aufführung.
Komponist Stephan Dominikus Wehrle und die Sinfonia Reutlingen nach der Aufführung. Foto: Armin Knauer
Komponist Stephan Dominikus Wehrle und die Sinfonia Reutlingen nach der Aufführung.
Foto: Armin Knauer

REUTLINGEN. Ob man Reutlingen mögen kann oder lieben muss, bleibt auch nach der berühmten Werbekampagne der Stadt eine offene Frage. Fakt ist jedoch, dass Reutlingen nun in anderer Hinsicht in einer Liga spielt mit Paris, Istanbul, Jerusalem oder London: Es hat seine eigene Tondichtung. Die trägt den Titel »Die sieben Tore von Reutlingen«, wurde von dem ehemaligen Reutlinger Stephan Dominikus Wehrle komponiert und mit ihm am Pult von seinem Orchester Sinfonia Reutlingen am Sonntagnachmittag in der Peter- und Paulskirche im Storlach aufgeführt, als Teil der dortigen Reihe »Taste und Ton«. Reutlingens OB Thomas Keck ließ sich das nicht entgehen.

Dass Wehrle die Achalmstadt liebt, in der er lange gewohnt hat und noch immer Nachtschichten als Altenpfleger schiebt, kann kein Zweifel bestehen. Wehrle, Mittelalterfan, gelernter Sounddesigner und Filmkomponist, macht aus Reutlingen einen Ort wie im Fantasyroman. In Wehrles Reutlingen findet weder das Verkehrschaos platz noch der Lärm der Industrialisierung. Dafür taucht man ein in das Treiben der Gerber an der Echaz und die einst grüne Idylle hinterm Gartentor. Auch der Stadtbrand von 1726 ist Thema.

Zwischen Beethoven und Filmmusik

Das klingt mal nach Filmmusik, mal nach Beethoven. Wegmarken auf dem klingenden Streifzug bieten die sieben Stadttore, von denen nur noch zwei übrig sind. Großartige Klangmalerei ist gleich der erste Satz über das Tübinger Tor: In Geigen und Holzbläsern lastet abendliche Sommerhitze, da züngelt es in den Celli, bald flammt es lichterloh im Tutti samt Blechbläsern und großem Gong. Der Stadtbrand frisst sich durch die Häuser, die Brandglocke im Tübinger Tor – hier eine Kuhglocke – tönt zu spät.

Die Streicher und Holzbläser der Sinfonia Reutlingen bei der Uraufführung von Wehrles Werk.
Die Streicher und Holzbläser der Sinfonia Reutlingen bei der Uraufführung von Wehrles Werk. Foto: Armin Knauer
Die Streicher und Holzbläser der Sinfonia Reutlingen bei der Uraufführung von Wehrles Werk.
Foto: Armin Knauer

Dem Flammendrama folgt die Idylle hinterm Gartentor, von wo aus man in die Weinberge aufstieg. Mittelalterliche Tänze und Hirtenmusik klingen an in Flöten, Oboen, Fagotten. In den Geigen kann man ein Bächlein plätschern hören. Eine Idylle, die sich im dritten Satz zum »Oberen Tor« fortsetzt, dessen einstiger Standort nicht mehr greifbar ist. Die Oboe hat ihren großen Auftritt, die ruhige Atmosphäre zerfließt in spätromantischen Harmonien. Wenn man dem Werk etwas vorwerfen will, dann, dass es etwas üppig schwelgerische Idyllen ausbreitet.

Ein netter Einfall ist es, das nicht mehr erhaltene Albtor von einem Fuhrwerk durchqueren zu lassen, das anschließend in walzerndem Sechsachteltakt die Steige hinaufzuckelt. Wunderbar halten Orchester und Dirigent die Balance zwischen unablässigem Vorwärtsrollen und der Mühe, mit der es nach oben geht. Bis sich am Ende in gelösten Harmonien die Albhochfläche ausbreitet samt bimmelnder Kuhglocken.

Wuselnde Motive zum Gerbertor

Gelungen sind auch die wuselnden Motive im Satz zum Gerbertor, mit denen Wehrle das geschäftige Treiben der Lederwerker einfängt. Die Töne flitzen zwischen Bläsern und Streichern hin und her, formieren sich gar zur veritablen Fuge. Hier klingt schon die an Beethoven orientierte Motivarbeit an. Der Satz zum »Peinturm« am Burgplatz, einst Gefängnis- und Verhörort, schlägt düstere Klänge an. Ehe der Schlusssatz zum Stuttgarter Tor, von wo es in die prächtige Landeshauptstadt ging, wuchtig-ernste Töne bringt. Fast klingt das wie ein Beethoven-Sinfoniesatz.

Stephan Dominikus Wehrle als Dirigent bei der Uraufführung seines Werks.
Stephan Dominikus Wehrle als Dirigent bei der Uraufführung seines Werks. Foto: Armin Knauer
Stephan Dominikus Wehrle als Dirigent bei der Uraufführung seines Werks.
Foto: Armin Knauer

Vor und zwischen den Sätzen tragen erst Wehrle, dann Geigerin Eva Hink-Lemke Erläuterungen zu den einzelnen Toren vor, teils mit Tonbeispielen. Die Texte sind fast literarisch schön, allerdings teils etwas lang, sodass die Sätze zu sehr auseinandergerissen sind.

Zwei Jahre Arbeit

Zwei Jahre Arbeit stecken in dem rund eineinviertelstündigen Werk, von den historischen Recherchen über die Komposition bis zur Einstudierung. Komponist Wehrle hat das mit seiner Sinfonia bravourös hingelegt. Vor allem angesichts der Tatsache, dass das Orchester recht ungleichgewichtig besetzt ist. Das Ensemble verfügt nur über ein Horn, zu dem sich dafür zwei Tenorhörner gesellen. Es gibt keine Kontrabässe, wenige Bratschen und Celli, dafür gleich drei Fagotte und drei Posaunen plus Tuba. Auch eine Harfe ist dabei, die Wehrle mehrfach einsetzt.

Es war daher kaum vermeidlich, dass das tiefe Blech zuweilen die Oberhand gewann und die tiefen Streicher gelegentlich untergingen. In manchen Bereichen kann der Klangkörper Verstärkung vertragen. Aber selbst angesichts dieser Unperfektheiten war es eine gute Stunde wunderbare Musik. Und ein Eintauchen in ein Reutlingen, so farbig, märchenhaft und atmosphärisch wie im Kino. (GEA)