STUTTGART. Ein Stück mit dem Titel »Zur schönen Aussicht« könnte zunächst falsche Erwartungen wecken. In Richtung Komödienstadl beispielsweise. Doch der Blick auf die Autorenzeile belehrt rasch eines Besseren: Ödön von Horváth. Jener deutschsprachig schreibende Dramatiker ungarischer Herkunft, der nach dem Ersten Weltkrieg mit geschickt montierten Versatzstücken aus Operetten und Heurigen-Schmonzetten bitterböse Bilder der österreichischen Gesellschaft auf die Bühne brachte und vor dem heraufziehenden Faschismus warnte. Satire und Tragödie fließen dabei gezielt ineinander.
»Zur schönen Aussicht«, 1926 entstanden und jetzt vom Schauspiel Stuttgart neu herausgebracht, ist dabei eines seiner früheren Werke. Doch es enthält bereits alle wesentlichen Ingredienzien der späteren Meisterstücke. Kaputte Männer-Typen, die einstmals »etwas waren« und nun, existenzialistisch auf sich selbst zurückgeworfen, ihr tagtägliches Scheitern zelebrieren. Wobei deren »schöne Aussicht« alles andere als hoffnungsvoll ist in jenem zur Absteige heruntergekommenen Berghotel gleichen Namens, aufgekauft vom früheren Offizier Strasser. Der steht kurz vor der Pleite. Kann sein Zwei-Mann-Personal nicht bezahlen, weder Chauffeur Karl noch Kellner Max. Auch diese beiden mit zweifelhafter Vergangenheit. Weshalb es sich alle drei mit subtilen erpresserischen Andeutungen gegeneinander schwer machen. Und doch zum Miteinander verdonnert sind. Denn sie haben in ihrem Etablissement nur einen einzigen zahlenden Gast, die verlebte Baronin Ada von Stetten. Die sich als Gegenleistung für ihr Geld von den Dreien sexuell befriedigen lässt.
Menschliche Lichtgestalt
Bis ihr abgebrannter Bruder Emanuel hinzukommt und sich von Ada seine Spielschulden finanzieren lassen möchte. Genauso will der Wein- und vormals windige Autohändler Müller seine offenen Rechnungen von Strasser beglichen haben. Und in diese von Habgier geleitete Gesellschaft tritt - wie auch in Horváths späteren Werken - eine menschliche Lichtgestalt. Eine Frau, welche der Missgunst jener fünf Männer ihre bedingungslose Liebe zu Strasser gegenüberstellt. Von dem sie binnen knapper Jahresfrist ein Kind empfangen hat. Von welchem dieser allerdings nichts wissen will.
Da hecken die Männer einen teuflischen Plan aus, angeleitet von Emanuel, der sich damit brüstet, schon als Student mit zwei Kommilitonen auf dieselbe Art und Weise die Zahlung von Alimenten abgewendet zu haben. Sie spiegeln mit schlüpfrigen Anspielungen und Andeutungen der immer verzweifelter werdenden Christine vor, dass sie doch schon einmal mit jedem von ihnen etwas gehabt habe, sodass alle der Kindsvater sein könnten. Bis sie schließlich den eigentlichen Grund ihrer Reise bekennt: Sie habe eine große Geldsumme geerbt, die sie dem Vater ihres Kindes übereignen wolle. Worauf alle ihr auf widerwärtige Weise den Hof machen. Doch Christine reist ab und lässt die kaltschnäuzige Gesellschaft in ihrem dumpfen Nihilismus zurück.
Tiefen und Abgründe
Horváth hat als Zeitraum für seine Handlung den Verlauf eines halben Tages angegeben. Für die Inszenierung erfordert dies straffe Dialogregie und Stringenz. Die Wiener Regisseurin Christina Tscharyiski nimmt mit ihrer ersten Inszenierung für Stuttgart das Stück sehr ernst, geradezu bitterernst. Lotet es in seinen Tiefen und Abgründen aus. Legt mit schonungsloser Konsequenz die miesen Charaktere der fünf Männer offen, desgleichen das überzogen Besitzergreifende von Baronin Ada. Wiewohl sie auch deren zerbrechliche Seite hinter der Domina-Fassade deutlich werden lässt. Adas zum geflügelten Wort gewordene Aussage »Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu« kommt in der Stuttgarter Neuinszenierung ebenso zur Geltung wie ihr disziplinloser Alkoholkonsum. Was Therese Dörr schauspielerisch hervorragend umsetzt. Genauso ist bei Laura Balzers Christine das Strahlende ihrer Liebesbotschaft von Tragik, Bitternis und stammelndem Schluchzen durchwirkt, bis sie schlussendlich den Männerbund mit dessen eigener Häme konfrontiert.
Aufführungsinfo
Nächste Aufführungen: 24. und 27. Juni, 7., 24., 25. und 27. Juli. Weitere Infos unter: www.schauspiel-stuttgart.de. (GEA)
Der wiederum zeigt mit durchweg überzeugender Bühnenpräsenz das Gebrochene hinter dem Verbrechertum. Wenn Tim Bülow als Karl bei den Prahlereien über sein Vorleben als Plantagenbesitzer die Stimme vor Angst leise flackern lässt, furchtsam hoffend, dass die Jahre im Zuchthaus nicht herauskommen. Wenn der von Felix Strobel pointiert gespielte Strasser nicht in der Lage ist, sich zu seinen Gefühlen zu bekennen, und noch kurz vor Schluss gegenüber Christine den beinharten Geschäftsmann heraushängt, als der er doch längst schon gescheitert ist. Wenn Max (Simon Löcker) versucht, sich mithilfe seiner Intelligenz aus der subalternen Position des Kellners herauszuarbeiten, und es nicht schafft. Wenn Klaus Rodewald als Emanuel zynisch seine Intrige gegen Christine zu spinnen beginnt. Und Gábor Biedermann geradezu furchterregend die faschistoiden Ergüsse des Müller (»Ordnung fehlt! Und Zucht! Und der starke Mann!«) herauskeift. Was für ein auch noch nach einhundert Jahren starkes Stück! (GEA)