REUTLINGEN. Im Foyer des franz.K hängen Nebelschwaden in der Luft. Lange bevor das Konzert der Berliner Band Augn beginnt, leuchtet dort, auf der Bühne, blutrot und grinsend, das Gesicht des Schauspielers Tom Cruise. Eine Stimme kommt durch den Nebel, die immer wieder feststellt, ätzend lapidar: »Reutlingen ist scheiße.« Der Abend fängt gut an. Und geht so weiter.
Drei bis vier Dutzend Konzertbesucher lassen sich Reutlingen von zwei maskierten Personen aus der Hauptstadt offenbar gerne madig machen. Oder sind es die Lorbeeren, die die Presse an Augn vergab, die das kleine Publikum anlockten? Von einer noch neueren deutschen Härte liest man, der »Spiegel« tönte gar, es handele sich bei Augn um »Pop-Terroristen«, die unerbittlich aufräumen würden, mit einer »aktuellen Verspießerungstendenz der deutschen Gesellschaft, die vor der Moderne kapituliert«. Das alleine schon klingt verdächtig weit hergeholt. Erlebt man Augn dann tatsächlich live, stellt man fest, dass die großen Künstler im Grunde nichts anderes tun als das, was jeder Autofahrer im Stau ohnehin an jedem Tag tut: Sie fluchen, sie motzen, sie brummen vor sich hin. Interpretiert man ihren Auftritt als Provokation um der Provokation willen – und welch andere Wahl hätte man? – so stellt man fest: Das ist nicht nur von gestern, das wurde gestern auch schon besser gemacht. Um vieles.
Prinzip Beleidigung
Eine hallende Klangfläche hängt im Raum, zuerst, klingt fast sakral. Die Ouvertüre endet, eine aufdringliche Stimme meldet sich zu Wort und sagt: »Hallo Reutlingen. Ihr schwachmatischen Hurensöhne. Die Fotzen eurer Mütter sind das Ausgeleiertste, was diese Welt zu bieten hat, und eure Väter sind ein Haufen schwächlicher Feiglinge, die sich in die Hose machen bei der kleinsten Konfrontation mit Bürgergeldempfängern aus dem Orient. Ihr dummen Fotzen. Schön, dass ihr da seid. Hitler. Ab geht’s.«
Dann wird dumpfer Schlagzeugsound zugespielt, ein E-Bass auf der Bühne grob bedient, und eine Gestalt steht im Nebel, die nichts weiter tut, als in vage nörgelndem Rap-Tonfall weitere Obszönitäten auszuspucken. Nach satirischen, kritischen Ansätzen könnte man suchen, sich fragen, ob ein Rundumschlag, ein Haufen Verbalmüll, der im Halse stecken bleibt, eine Generalbeleidigung aller denkbaren Parteien, eine aggressive Totalverweigerung doch der Trick ist. Zuletzt aber drängt sich der Verdacht auf, dass der Mangel an Intelligenz, den man hier zu spüren meint, vielleicht nicht gespielt ist.
40 Minuten
Und vielleicht sagt sich nun ein Konzertbesucher: Die Möglichkeit, dass Augn irgendwann die grobe Maske fallen lassen und beginnen, wahrhaft Musik zu spielen, raffiniert und filigran, oder doch zumindest mit ansprechendem Appeal und mit relevanten Texten – sie besteht. Aber sie ist verschwindend klein. Eigentlich könnte ich ja gehen. Aber Augn kommen auch dem glatt zuvor. Noch ehe der kunstunsinnige Zuschauer das Ereignis fliehen kann, ist es von selbst vorbei. Nach fast exakt 40 Minuten endet das Konzert.
Zuletzt hört man eine Stimme, die monoton »Zugabe, Zugabe« raunt, hört den bekannt debilen Schlagzeugsound, hört noch eine Stimme, die freundlich und nüchtern wie eine Nachrichtensprecherin »Sperma« sagt. Die Musiker treten nicht auf, die Bühne bleibt leer, ein paar avantgardistische Punks toben vor ihr, Nebelschwaden stehen ungerührt, und das war’s. Man erfährt: Es gibt Menschen, die weit gereist sind, um Augn zu erleben. Eine gewisse Anzahl der Konzertbesucher hat Eintritt bezahlt. Freitag, der 14. Februar 2025 könnte in die Annalen des franz.K eingehen als der bizarrste Abend, der dort jemals stattfand. Vielleicht, ja vielleicht wird es in einer Zukunft Menschen geben, die tief bedauern, diesen legendären Auftritt versäumt zu haben. Und natürlich, dies sollte unerwähnt nicht bleiben, war all dies völlig, ganz und gar, im Allgemeinen und Besonderen, total »mega« – das Konzert und seine Rezension natürlich auch. (GEA)