Logo
Aktuell Musiklesung

Sophie Hunger stellt im Stuttgarter Theaterhaus ihren Debütroman vor

Sophie Hunger, Spezialistin für wunderliche Songträume, hat ihren ersten Roman geschrieben. Bei seiner Vorstellung im Stuttgarter Theaterhaus achtete sie sorgsam darauf, dass es keine normale Lesung wurde.

Kunstschnee und Schattenspiele: Bei der Buchvorstellung von Sophie Hunger im Theaterhaus war einiges geboten.
Kunstschnee und Schattenspiele: Bei der Buchvorstellung von Sophie Hunger im Theaterhaus war einiges geboten. Foto: Armin Knauer
Kunstschnee und Schattenspiele: Bei der Buchvorstellung von Sophie Hunger im Theaterhaus war einiges geboten.
Foto: Armin Knauer

STUTTGART. Sie sei zuvor noch nie bei einer Lesung gewesen, versicherte Sophie Hunger dem Publikum im Theaterhaus. Das musste schon gesagt sein, denn die mittlerweile in Berlin lebende Schweizerin hat einen Ruf zu verteidigen. Den einer Schöpferin wunderlicher Songperlen fernab jeder bürgerlichen Konvention.

Nun aber hat die eigenwillige Künstlerin einen Roman geschrieben: »Walzer für Niemand«. Was sie zu einer Lesung nötigt, dem Inbegriff konventioneller Bürgerkultur. Man durfte erwarten, dass es keine normale Lesung wird. Was schon damit anfing, dass die Veranstaltung als Teil der Theaterhaus-Jazztage daherkam.

Fluchten aus der Normalität

Das Publikum liebt die Schweizerin dafür, verlässlich kleine Fluchten aus der Normalität geboten zu bekommen. Es wurde im rappelvollen Saal T2 nicht enttäuscht. Ehe Hunger ihr Buch in die Hand nimmt, tritt sie mit einem Stapel Blättern an ein Mikrofon am Rand der für sie aufgebauten Koje aus zwei rechtwinklig verbundenen Videoleinwänden. Ihr Gesicht verschwindet hinter dem Blätterstapel, dafür erscheint auf den Leinwänden riesenhaft vergrößert ihr live abgefilmter Mund. Lippen, Zähne, Zunge, Speichelfäden alles da. Und irgendwie passend, denn es geht um Körperliches, es geht um die Zangengeburt ihres erzählenden Ichs.

Zungenspiele vor Livekamera: Sophie Hunger im Theaterhaus.
Zungenspiele vor Livekamera: Sophie Hunger im Theaterhaus. Foto: Armin Knauer
Zungenspiele vor Livekamera: Sophie Hunger im Theaterhaus.
Foto: Armin Knauer

Hunger, dezent im schwarzen Kostüm, wird noch mehrere Male an das Mikro mit Kamera zurückkehren, wird sich noch mehrere Male in eine riesenhaft artikulierende Körperöffnung verwandeln, ganz Mund sein. Dazwischen tritt sie mit einem anderen Mikrofon an den Bühnenrand, erzählt eine ganz andere Geschichte, die eines Bergvolks der Walserinnen. Der Gag dabei: Die Elektronik verwandelt Hungers Stimme in eine männliche, später in eine gequetschte weibliche. Die Walserinnen, referiert die Schweizerin mit sonorem Bariton und unterdrückt mühsam ein Lachen, könnten ihre Körpertemperatur auf 17 Grad absenken. Bei Bedarf fielen sie in eine Hungerstarre und hätten die Fähigkeit, Sauerstoff unter den Fingernägeln zu speichern. Ersticken könnten sie lediglich an ihren eigenen Gedanken.

Schattenspiele und Kunstschnee

Schließlich setzt sich die Künstlerin doch noch auf einen Hocker und liest aus ihrem Buch – was zwischen all dem anderen wirkt wie das ironische Zitat einer normalen Lesung. Natürlich bleibt es auch hier nicht dabei. Schattenspiele ihrer Gestalt treten hinzu; an einer Stelle, in der es um das Geräusch von fallendem Schnee geht, fällt Kunstschnee vom Bühnenhimmel, so viel poetischer Kitsch muss sein.

Natürlich singt sie auch: Kinderlieder und Moritaten, unbegleitet im Schweizer Zungenschlag. Karge Folkballaden mit hypnotischen Gitarrenfiguren. Sanft hingetupfte Chansons und rockig zupackende Lieder mit aufkreischenden Akkorden. Am Ende am E-Piano sehr weich der Namen gebende »Walzer für Niemand«. Jenen Niemand, der bei ihre eine eigene Präsenz gewinnt, Person wird. Als Zugabe ein sehr zartes Liebeslied, mit jenem Schuss schrägem Humor, dass es als typisch Hunger durchgehen kann.

Autofahrt mit Taube

Ihr Roman an sich geht zwischen diesen Performance-Elementen fast ein bisschen unter. Es geht um ein namen- und geschlechtsloses Ich, das sich flugs zum Wir weitet. Und später am Abend im Auto ziellos durch die nächtliche Stadt streift, Absinth in der Kehle, eine verletzte Taube im Schoß und Musik von Joni Mitchell und Portishead im Radio.

Songs vor digitalem Schnee: Sophie Hunger bei ihrer Buchvorstellung.
Songs vor digitalem Schnee: Sophie Hunger bei ihrer Buchvorstellung. Foto: Martin Kemeter
Songs vor digitalem Schnee: Sophie Hunger bei ihrer Buchvorstellung.
Foto: Martin Kemeter

Zuvor ging es um die Kindheit, um den Klavierunterricht bei einer abgedrehten Lehrerin, deren Lektionen darin bestehen, Schmerzenslitaneien der lautesten Geräusche zu rezitieren: »Hilfeschrei eines Ertrinkenden im Meer: 137 Dezibel. Atombombe: 210 Dezibel. Ausbruch des Vulkans Krakatau: 310 Dezibel.« Um hernach mit ihren Zöglingen auf die Suche nach den sanftesten Geräuschen zu gehen. In immer gedämpfteren Räumen, unter Wasser im Hallenbad. Oder schließlich fernab am Aletschgletscher, wo selbst die Schneeflocken noch zu hören sind: »10 Dezibel.«

Hochpoetische Sprache

Nebelhaft zeichnet sich eine Coming-of-Age-Geschichte ab, die immer entlang von Musik und Tönen erzählt ist. Die von daher notwendig autobiografisch gefärbt ist – nur eben ins Wunderliche gezogen, auch was die mal hochpoetische, dann wieder humorvoll schräge Sprache betrifft. Ganz Hunger eben. Die am Ende doch vor den bürgerlichen Konventionen kapituliert. Nach der Performance werden Bücher signiert. (GEA)