Logo
Aktuell Theater

So perfide ist Ausgrenzung

Mit Max Frischs dramatischer Parabel »Andorra« setzt das LTT zum Spielzeitauftakt ein kraftvolles Zeichen

Rupert Hausner, Kristin Scheinhütte, Insa Jebens, Jonas Breitstadt und Elias Popp (von links) stellen in dieser Szene als Lebend
Rupert Hausner, Kristin Scheinhütte, Insa Jebens, Jonas Breitstadt und Elias Popp (von links) stellen in dieser Szene als Lebendes Bild die rassistische Karikatur eines Juden nach. FOTO: SIGMUND / LTT
Rupert Hausner, Kristin Scheinhütte, Insa Jebens, Jonas Breitstadt und Elias Popp (von links) stellen in dieser Szene als Lebendes Bild die rassistische Karikatur eines Juden nach. FOTO: SIGMUND / LTT

TÜBINGEN. Der von Andri, der Hauptfigur im Stück »Andorra«, ausgesprochene Satz, wonach alle das Böse in sich tragen, aber keiner es haben will, kommt vielleicht ein bisschen zu oft vor in der Bühnenfassung des Jungen LTT. Wo es hin solle, das Böse, das jeder in sich habe, »in die Luft?«, fragt Andri. Dort bleibe es nicht lange, resümiert er, es müsse »in einen Menschen hinein, damit sie’s eines Tages packen und töten können«.

Andri spricht hier aus, was ihm im Stück widerfährt. Die Gesellschaft, in der er lebt, betont erst sein angeblich rassisch bedingtes Anderssein, stigmatisiert und diskriminiert ihn, um ihn dann als Sündenbock für ein Verbrechen bluten zu lassen, das er nicht begangen hat.

Ja, Andris Sentenzen, seine Analyse der Mechanismen von Rassismus und Ausgrenzung, kommen in der Tübinger Fassung von Max Frischs dramatischer Parabel, mit der das LTT am Samstag seine Spielzeit eröffnet hat, in der Tat oft vor. Aus dramaturgischer Sicht zu oft. Und aus gesellschaftlicher? Da braucht es diese kritische Einordnung gerade in einer Zeit, in der Stigmatisierung und rassistisch motivierte Schuldzuweisungen – nicht nur gegen Juden, wie im Stück – fröhliche Urstände feiern.

Eindringliche Bilder

»Ich bin nicht schuld, dass es dann so gekommen ist«, wird ein unbescholtener Bürger, der dennoch nicht frei von Schuld ist, nach der menschlichen Katastrophe im Stück sagen. »Das ist alles, was ich nach Jahr und Tag dazu sagen kann. Ich bin nicht schuld.« Der Zuschauer sitzt bei diesen eingeschobenen kurzen Monologen quasi auf dem Richterstuhl und darf sich einbilden, selbst nichts mit Mobbing, Diskriminierung oder Verrat zu tun zu haben (das ist von Max Frisch als Element des Epischen Theaters in den frühen 1960er-Jahren so angelegt). Wenn man sich da bloß mal nicht täuscht!

Fanny Brunner, die das Stück fürs Junge LTT und für Zuschauer ab 14 Jahren inszeniert hat, findet eindringliche Bilder auf der von Daniel Angermayr in nüchternem Schwarz-Weiß gestalteten Bühne. Ein außer Rupert Hausner komplett erneuertes, noch sehr junges Ensemble (Insa Jebens, Kristin Scheinhütte, Jonas Breitstadt und Elias Popp) weiß zu glänzen – allerdings nicht in klassischer Rollenverteilung. Jeder ist hier im Verlauf des Abends mal Andri, der sich von der Gesellschaft zum Außenseiter degradiert sieht und zum trotzigen Rebellen wird. Der an einer Stelle ebenso zynisch wie autosuggestiv rappt, dass Hass ihn stark mache.

Besonders perfide sind Szenen wie die, in der einer der Bürger des fiktiven Kleinstaats Andorra diskriminierende Witze vom Stapel lässt. Man ertappt sich dabei, das eine oder andere tatsächlich witzig zu finden. Gleichzeitig registriert man, dass, wenn man lacht, man dies auf Kosten Anderer tut.

Damit man bei den vielen Rollenwechseln als Zuschauer nicht die Orientierung verliert, drehen die Akteure jeweils lebensgroße Spielfiguren aus Sperrholz ins Licht und verdeutlichen so, wer hier gerade mit wem spricht. Alle Geräusche, ob Rülpser des betrunkenen Soldaten oder die Kirchenglocke, kommen von einem Sampler, den die Darsteller sichtbar per Knopfdruck auf der Bühne bedienen – auch so ein Verfremdungseffekt, genau wie die Lieder, die die Bürger von Andorra immer wieder die Handlung sprengend singen.

In einer aberwitzig-absurden Szene stellen sie abwechselnd (mit Windmaschine!) als Tableau vivant die rassistische Karikatur eines Juden nach – und treten auch hier aus ihren Rollen. Eindrucksvoll der Moment gegen Ende, wenn alle zu Andri werden – und zwar gleichzeitig. Dass auch Max Frisch und sein Baby (das Stück) als Figuren auf der Bühne erscheinen, mag man für überflüssig halten. Es soll dies wohl helfen, die Brücke zum jungen Zuschauer zu schlagen. (GEA)