TÜBINGEN. Die Luftfilter seien an, hier werde »ja heute einiges Dreckiges gesagt werden«, kündigt Sündy, eine der Figuren in Hannah Zufalls Bühnenstück »Schimpf & Schande«, an. Die Stückentwicklung, an der die Schauspielerinnen Lisette Holdack und Seraina Löschau und Schauspieler Morris Weckherlin tatkräftig mitgewirkt haben, nimmt sich der Schimpfkultur an. Dass auf der Bühne im Löwen, der größten Spielstätte des Tübinger Zimmertheaters, den ganzen Abend eine Waschmaschine läuft, erklären Sündenbock Sündy, Moderator Harmony und Cholly, auch genannt Cholerica, mit dem Waschen der schmutzigen Wäsche des Publikums.
Einladung zum »Diss-Kurs«
Unmittelbar nach Beginn der Premiere am Samstag ist jeder und jede aufgefordert, die – wie passend! – unter dem Stuhl bereitliegende Wäsche, stellvertretend für den eigenen Wunsch zu fluchen, zu schimpfen oder auszurasten, nach vorn auf die Bühne zu schleudern. Niemand lässt sich lange bitten, und so kann der Hauptwaschgang ohne Schonprogramm beginnen.
Eine Showtreppe führt hinunter zur Waschmaschine in der Bühnenmitte. Auf beiden wird getanzt und gesungen. »Pott-Sau« und »Sack-Gesicht« sind dabei noch die harmlosesten Ausdrücke in der Show, die sich »You can buh it!« nennt. Dass von der Leuchtschrift über der Bühne anfangs nur »impf & Schande« zu lesen ist, rechtfertigt den ersten Ausraster von Cholly, die von sich sagt: »Mein Stammbaum ist ein Schlagbaum.« Der Zimmertheater-Techniker bekommt die Schimpftirade ab.
Doch der Antrieb des Trios ist durchaus auch ein aufklärerischer. So lädt Sündy das Publikum zum »Diss-Kurs«. Am Ende seien »wir mit unseren persönlichen anger issues doch auch nur Stellvertreterinnen von etwas Größerem«, sagt sie. »Ja, wir sind nur die Waschmaschinenvertreter«, stimmt Cholly zu.
Dass der »neue Retroshit die Schimpfkultur von anno dazumal« sei, versucht die von Lisette Holdack verkörperte Sündy dem Publikum weiszumachen. Von den Brüdern Grimm für ihr Wörterbuch gesammelte Schimpfwörter sollen als Beleg dafür dienen, darunter »darmwindiger Gelegenheitsdenker« oder »mopsnäsige Drecksbatze«. Ausfälligkeiten, die sich nach Sido anhören, entpuppen sich als Originalton von Mozart (aus den Bäsle-Briefen).
So oder so müsse das »ganze Darmgulasch, das man in sich trägt«, irgendwo hin, erklärt Seraina Löschau als Cholly dem Publikum. »Ich bin die Klistierspritze für Ihre Wut.« Als es an einer Stelle völlig unappetitlich wird (Stichwort Hate Speech), sieht man die Darstellerinnen (Kostümbild: Josefin Kwon) durch Strickmasken fluchen und schreien, deren angedeutete Münder so etwas wie Tentakeln (wenn man an »Fluch der Karibik« denkt) oder entleerte Därme vor sich baumeln haben.
Das Ur-Hirn übernimmt
Morris Weckherlin weiß als Harmony, wie das mit der Großhirnrinde ist. Dass sie sich bei großer Wut abschaltet und das Ur-Hirn übernimmt. Sein Schimpfen auf Schweizerdeutsch enthält Wörter wie »Rätschbäse« oder »Chlemmseckel« und klingt für deutsche Ohren eher putzig. Dass auch Zeitungsleser nach einem Aufruf des Zimmertheaters Hinweise gaben – etwa auf einen von Mundartkünstler Wilhelm König formulierten Fluch –, spiegelt sich gewinnbringend im Programm wider. Vollends fantastisch (im Genresinne) wird es, als die Bühnenfiguren an einer Stelle beginnen, sich für Gesagtes zu entschuldigen. Wo käme man denn hin, wenn jeder das täte!
Hannah Zufall hat das Stück schwungvoll inszeniert, das Ensemble spielt mit spürbarer Hingabe. Als Abend mit Ventilfunktion, als »Spiegelkabinett der Dinge, die uns aufregen«, als »kraftsprachenvolle Liebeserklärung an die Schattenseiten unserer Ausdrucksfähigkeit« funktioniert das Ganze gut. Und damit es am Ende nicht gar zu harmonisch wird, singen Harmony und Cholly auf die Melodie von »Wonderful World« »Damn« und »What a horrible world«. (GEA)