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Sinfonie in der Marienkirche: Aus dem Kosmos in die Highlands

Stephan Wehrle präsentiert mit dem Martinskollegium Pfullingen und dem Mädchenchor Rottweil seine Sinfonie Nr. 1

Verdienter Applaus: Stephan Wehrle (Mitte) mit dem Martinskollegium Pfullingen und dem Mädchenchor Rottweil (hinten).  FOTO: KNA
Verdienter Applaus: Stephan Wehrle (Mitte) mit dem Martinskollegium Pfullingen und dem Mädchenchor Rottweil (hinten). Foto: Armin Knauer
Verdienter Applaus: Stephan Wehrle (Mitte) mit dem Martinskollegium Pfullingen und dem Mädchenchor Rottweil (hinten).
Foto: Armin Knauer

REUTLINGEN. Er hat’s geschafft. Stephan Dominikus Wehrle hat mit dem Martinskollegium Pfullingen und dem Mädchenchor Rottweil in der Marienkirche seine erste Sinfonie uraufgeführt. Und damit den praktischen Teil seiner Masterarbeit im Fach »künstlerische Konzeption« an der Hochschule Reutlingen hinter sich gebracht. Denn die Abschlussarbeit des Reutlingers, der zuvor in Trossingen seinen Bachelor in Musikdesign abgelegt hat, ist genau dieses Projekt: eine eigene Sinfonie, von der Idee über den Probenprozess bis zur fertigen Aufführung.

Ein Unterfangen, das durch Corona immer schwieriger wurde. Für die Proben musste in Industriehallen ausgewichen werden; die Besetzung galt es zu reduzieren, damit sie in die Marienkirche passte; eine Klangskulptur samt eingebauter Live-Elektronik fiel weg. Die Stadt stellte sich hinter das Vorhaben, gab über den Kulturfonds 3 000 Euro, OB Thomas Keck zeigte sich bei der Begrüßung beeindruckt von Wehrles Kreativität und Durchhaltewillen.

Und was hat Wehrle nicht alles in seine knapp einstündige Komposition gesteckt: Kosmos und Mittelalter, Sakrales und Klassik, Bezüge zu Beethoven und Arvo Pärt, Gregorianik und Filmmusik. Immer wieder greift er auf die mathematische Fibonacci-Reihe zurück, deren Zahlenverhältnisse selbst die Gestalt von Galaxien bestimmen. »Harmonie der Sphären« hat er sein Werk daher genannt.

Es sind denn auch die Tiefen des Kosmos, aus denen das Stück zu Beginn aufzutauchen scheint. Über einem tiefen Liegeton der Streicher erheben sich archaische Unisono-Motive des Mädchenchors Rottweil, der wegen Corona nun ganz real in der Tiefe des Chorraums steht. Chorleiter Andreas Puttkammer gibt für die Sängerinnen als Zweitdirigent die Einsätze, weil ihre Sicht auf den Gesamtleiter Stephan Wehrle durch den Altar verdeckt ist.

Einzelne Motivfetzen tauchen wie Kometen am akustischen Firmament auf, in den Bratschen, den Geigen, den Holzbläsern. Dann ein jähes Aufleuchten der Blechbläser – der Urknall ist geschafft!

Von hier arbeitet sich Wehrles Komposition sukzessive vom Kosmischen zum Menschlichen vor. Es ist zudem eine typische »Nacht zum Licht«-Dramaturgie, die man hier erlebt, eine Dramaturgie, wie sie oft die Sinfonien von Beethoven prägt.

Beethoven trifft Filmmusik

So taucht das Geschehen erst einmal ab in den Kampf kosmischer Kräfte, der allmählich zum Kampf menschlicher Emotionen wird. An Beethoven erinnernde Motivfiguren rotieren dramatisch, lyrische Holzbläserstellen verschaffen Atempausen, doch schon ballt sich alles wieder zum düsteren Marsch, als müsse gleich Darth Vader aus »Star Wars« auftauchen.

Dazwischen schieben sich Teile des Mädchenchors, nur sparsam von der Chororgel begleitet. So, als werde hier das Geschehen in einem sakralen Raum gespiegelt. Es sind mit die stärksten Momente, Musik die mal an gregorianische Choräle erinnert, mal an Arvo Pärt oder an moderne skandinavische Komponisten wie Knut Nystedt oder Vytautas Miskinis. Bewundernswert, wie durchsichtig, motivgenau und intonationsrein das unter Puttkammers Leitung klingt! Dem Orchesterpart ist die Bewunderung für Heroen wie Beethoven, Schubert, Brahms anzumerken.

Fast an Mahler erinnern manche traumverlorene Streicherstellen. Bezaubernde Intimität vermitteln Soli von Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott. Auch den Blechbläsern gelingen schöne Momente, sie wirken aber nicht durchweg souverän. Was sicher auch daran liegt, dass sie am meisten unter der coronabedingten Ausdünnung des Satzes leiden. Anstelle der geplanten vollen Besetzung sind nur noch vier Blechbläser übrig, deren Stimmen im harmonischen Gefüge zwangsläufig gelegentlich etwas verloren wirken. Hier und da wirkt auch die Führung der Stimmen insgesamt im Orchestersatz noch etwas unorthodox, vor allem an den komplex verwobenen dramatischen Stellen.

Umso berührender, wie sich zum Ende hin die Wogen glätten. Die Kälte des Kosmos, die Strenge der Klosterklänge, das Tosen der Sternenschlachten, alles bleibt zurück. Der Hörer tritt in eine Landschaft von Harfenklang, Streichersamt und Holzbläserpoesie wie aus einer Folkballade. Wie sympathisch: Nicht im Siegesjubel wie bei Beethoven landen wir am Ende, sondern in der melancholischen Weite der schottischen Highlands. Oder den grünen Hügeln Irlands, den lichten Wäldern von J.R.R. Tolkiens Auenland. Auch die Stimmen des Mädchenchors gesellen sich hinzu, nun nicht mehr entrückt, sondern mit einer warmen Volksweise.

So wird aus dem kosmischen Drama am Ende ein imaginärer Kinofilm der großen Gefühle, dessen klangliche Wogen auf sanfter Melancholie dahinströmen. Hier ist der Komponist vielleicht am meisten bei sich. Held und Heldin reiten zum verklingenden Schein der Hörner und Streicher Hand in Hand gen Horizont.

Ein beeindruckendes Werk hat Wehrle geschaffen. Der Betreuer seiner Masterarbeit, Henning Eichinger, hat es im Publikum mitverfolgt. Fehlt noch die schriftliche Ausarbeitung. Die Arbeit, sie ist nur für die Musiker getan, für den Komponisten jedoch noch nicht zu Ende. (GEA)