REUTLINGEN. Rot, gelb, blau schlängelt es sich durch die Kundenhalle der Reutlinger Kreissparkasse. Wo sonst schlichtes Weiß dominiert, scheint der Raum selbst in farbiger Bewegung. Plastiken von Susanne Immer sind es, die sich seit gestern in Form lackierter Metallbänder von ihren Sockeln aus ins Weite winden. Sich teils in sich selbst verwickeln. Um urplötzlich im Nichts zu enden.
Um Energie, Bewegung, Zeit geht es der Reutlinger Künstlerin, deren Arbeiten in der Region wie auch darüber hinaus im öffentlichen Raum stehen. Zunächst ist es eine virtuelle Bewegung, auf die man trifft. Fürs Erste wirbelt es nur gedanklich, wenn der Blick den Schleifen der Metallbänder folgt, den Kurven der Grafiken. Beide bespiegeln sich gegenseitig, »sie korrigieren sich auch gegenseitig im Schaffensprozess«, erzählt Immer. Einmal gedanklich angestoßen, scheinen Plastiken wie Grafiken über ihre eigene Begrenzung hinauszudrängen. Unwillkürlich spinnt die Fantasie sie fort.
Virtuelle und reale Bewegung
Zur gedanklichen Bewegung kommt die reale – sobald man die Plastiken anstupst. Was hier ausdrücklich erlaubt ist! Dann, teils auch schon durch den Luftzug, geraten die Objekte in Schwingung. Loten verschiedene Richtungen des Pendelns, Kreisens aus, zucken hierhin, dorthin, in komplex sich überlagernden Mustern.
Wobei vor allem die kleineren Objekte aus gebogenem Aluminiumband geradezu hektische Betriebsamkeit entfalten. Während die großen aus Stahlblech in dezentes Beben verfallen.
Wo Bewegung ist, ist auch Energie, die die Bewegung antreibt. Auch diese Energie ist erst einmal nur virtuell da, als eine Art Potenzial, das die verschlungenen Formen durch den Raum treibt. Ihre Kraft drückt sich in den Signalfarben der Lackierung aus: flammendem Rot, sonnenhell strahlendem Gelb, wasserartig fließendem Blau.
Energie in der Struktur der Fläche
In den Grafiken steckt die Energie zudem in der luftigen, aufgebrochenen Struktur der Flächen; aber auch in der wirbelnden Überlagerung der Formen. Als »Druckplatten« collagiert Immer Alu- und Linolstreifen, ergänzt durch gezeichnete Linien mit der Rohrfeder. Das alles geht nicht durch die Druckpresse, sie reibt es mit dem Löffel ab. »Ich liebe diese Technik«, sagt sie, damit könne sie sehr genau die Textur bestimmen.
Der Eindruck eines luftigen Energiefeldes kulminiert in einem Objekt, das wie eine stilisierte Wolke wirkt: Aus schmalen, ineinander verschlungenen blauen Stahl- und Aluminiumstreifen gebildet, schwebt es an fast unsichtbaren Nylonfäden hoch oben im Raum.
Energie und Bewegung bedeuten die Veränderung eines Zustands. Veränderung heißt Differenz zwischen einem Vorher und einem Nachher – was einen Zeitverlauf markiert. Auch das steckt in den Grafiken und Plastiken. In letzteren auch der Effekt, dass sie aus jedem Blickwinkel eine andere »Raumzeichnung« ergeben. Für Immer drückt sich darin aus, dass man alles neu sehen kann, wenn man die Perspektive wechselt.
Struktur durch reißende Gummis
Besonders subtil steckt das Prinzip von Zeit und Veränderung in einer Serie kleiner Grafiken, die sie seit 2013 fertigt: Über einen Karton mit aquarellierter Streifenstruktur spannt sie farbige Gummiringe. Zunächst greifen die Gummis das Streifenmuster der Aquarellfarbe auf. Sobald jedoch das Gummi spröde wird, reißen die Ringe – und die abgerissenen Enden bilden neue »Zeichnungsspuren« auf der Bildfläche des Kartons.
So ist auf diesen kleinen, feinen Miniaturen stets alles auf subtile Weise präsent: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Vergangenheit, weil man erahnt, wie die Grafik vor dem Reißen der Gummis ausgesehen hat. Die Zukunft, weil man sich ausmalt, wie sie nach dem Reißen weiterer Gummis aussehen wird.
Und die Gegenwart, weil die Grafik im Moment so ist, wie sie ist. »Ich hab’ in all den Jahren noch nie den Moment beobachtet, wo ein Gummi reißt«, beteuert die Künstlerin. »Ich hab schon überlegt, ob ich mal eine Kamera aufstelle.« (GEA)
AUSSTELLUNGSINFO
Die Ausstellung »In erster Linie« mit Plastiken, Installationen und Wandarbeiten von Susanne Immer ist bis 16. Mai in der Kundenhalle der Kreissparkasse Reutlingen am Marktplatz zu sehen. Geöffnet ist Montag bis Freitag 9 bis 17 Uhr. (GEA) https://events.ksk-reutlingen.de/ausstellung-susanne-immer

