REUTLINGEN. Einst waren Ton Steine Scherben das musikalische Einsatzkommando der linken Szene. In den 1970er-Jahren riefen Bassist Kai Sichtermann und seine Band bei Konzerten regelmäßig zu Hausbesetzungen auf. So auch 1972 in Tübingen, wo 300 Konzertbesucher das damals leer stehende heutige Epple-Haus besetzen. Der Tübinger Medienwissenschaftler und Poetry-Slammer Elias Raatz hat als Masterarbeit ein Buch über die Besetzung geschrieben - mit einem Gastbeitrag von Kai Sichtermann. Beim Konzert im Reutlinger franz.K überreichte er Sichtermann ein Exemplar davon.
Mittlerweile ist es ruhiger geworden um die Band, deren Name sich an die Industriegewerkschaft Bau Steine Erden anlehnt. Von der Originalbesetzung der einstigen Musiker-Kommune sind noch der Perkussionist Funky K. Götzner und Bassist Sichtermann übrig. Beide haben einige Lieder der Band mitgeschrieben. Die meisten Songs stammen jedoch aus der Feder des 1996 verstorbenen Sängers Rio Reiser und seines 2024 verstorbenen Gitarristen R.P. S. Lanrue. Die Show im franz.K war auch eine Gedächtnisshow an die beiden verstorbenen Musiker, wie Sichtermann in einer seiner wenigen Ansagen betonte.
Kraftvolle junge weibliche Stimme
Als Ersatz an Stimme und Gitarre hatten sich die beiden alten weißen Männer der Restscherben mit Birte Volta mit einer kraftvollen jungen weiblichen Stimme verstärkt. Eine gute Entscheidung, denn die Sängerin traf den verwaschenen, wütenden und teilweise verträumten Gesangsstil Reisers recht gut. Trotzdem versuchte sie nie eine Kopie des Originals zu sein und verzichtete beispielsweise auf politische Ansagen. Volta hatte vor zwei Jahren bei einem Konzert in Braunschweig noch im Vorprogramm der Band gespielt.
Das Trio spielte das erste Set vor der Pause sitzend und begann mit Balladen wie »Für immer und Dich« oder »Halt dich an deiner Liebe fest«. Das überraschend junge Publikum - neben einigen studentischen Linksaktivisten standen Eltern, die Kinder im Grundschulalter mitgebracht hatten - reagierte zunächst noch verhalten. Nach der Pause änderte sich das, als die alten aktivistischen Kampflieder wie »Macht kaputt, was euch kaputt macht« angestimmt wurden. Beim Fehmarn-Festival 1970, als Jimi Hendrix seinen zweitletzten und die Scherben ihren ersten Auftritt hatten, waren die Fans dieser Aufforderung noch gefolgt und hatten die Bühne und ein Verwaltungsgebäude angezündet. Im franz.K musste die Feuerwehr glücklicherweise nicht eingreifen. Stattdessen herrschte Textsicherheit im Publikum bei der Brecht-Zeile »Reih dich ein in die Arbeitereinheitsfront, wenn auch du ein Arbeiter bist«.
Hymne der Hausbesetzerszene
Als erste Zugabe folgte Birte Volta dem aus dem Publikum hereingerufenen Stichwort »Mariannenplatz« und spielte die Hymne der Hausbesetzerszene, den »Rauch-Haus-Song«. Mitgegrölt wurde der Refrain: »Ihr kriegt uns hier nicht raus, schmeißt doch endlich Schmidt und Press und Mosch aus Kreuzberg raus« - Schmidt & Press sowie Heinz Mosch waren in den 1970ern große Immobilienfirmen. Als zweite Zugabe gab es den »Shit-Hit« mit der vom Publikum ebenso gefeierten Zeile »Einmal täglich Haschisch, nasch ich«. Um die aufgeheizte Stimmung wieder zu beruhigen, gab es als Rausschmeißer Rio Reisers kommerziellen Solo-Hit »Es ist vorbei, Bye bye Junimond«. Während der finale Applaus ertönte, war eines der mitgebrachten Kinder bereits auf dem Arm seines Vaters eingeschlafen. (GEA)