REUTLINGEN. Um es gleich vorweg zu nehmen: Eine klassische Lesung war das nicht. Brav an einem Tisch sitzen, mit einem Leselämpchen und einem Glas Wasser, und einen Text aus einem aufgeschlagenen Buch rezitieren? Das ist Wladimir Kaminers Sache nicht. Der Mann erzählt und erzählt – ohne Manuskript, scheinbar aus dem Stegreif. Nur zwei Mal in über zwei Stunden holt er tatsächlich Bücher hervor, um zwei seiner neueren Texte vorzutragen. Okay, im ersten Teil des Abends im franz.K steht wirklich dieses obligatorische Glas Wasser auf dem Stehtisch. Nach der Pause verwandelt es sich aus unerklärlichen Gründen in eins mit Stiel, in dem Weißwein drin ist. Weißwein, Getränke im Allgemeinen und Essen sind für das Oeuvre des aus Russland stammenden Autors als Protagonisten unverzichtbar – genauso wie »meine Mutter« und »meine Frau«, beide russisch wie er selbst, und »die Nachbarn«, überwiegend deutsch.
Seine Texte sind gemacht wie ein gutes Gericht: In den Topf kommen die bewährten Grundzutaten, etwas, das man immer wieder erkennt. Obendrauf gibt's die Überraschung – ein Gewürz oder einen Klecks Schmand sozusagen. Immer und immer wieder taucht Alltägliches auf, das, nachdem es Kaminer in die Finger bekommen hat, seine langweilige Banalität verliert und durch maßlose Übertreibung zu etwas irrsinnig Komischem wird. Dafür liebt ihn Reutlingen. Das franz.K ist voll, das Publikum ist treu und heiter, Kaminer kommt gerne und regelmäßig her. Zum letzten Mal war das vor zwei Jahren, seitdem hat er drei Bücher geschrieben.
Durch deutsche Kantinen
Alle drei – »Frühstück am Rande der Apokalypse«, »Gebrauchsanweisung für Nachbarn« und »Mahlzeit! Geschichten von Europas Tischen« – spielen an diesem Abend eine Rolle. Genauso wie die Fernseh-Erfahrungen des Autors, der öfter mal vom Kultur-Sender 3sat gebucht wird, um den Deutschen, unter denen er seit Jahrzehnten lebt, ihr Deutschland näher zu bringen. Liebevoll hält er ihnen den Spiegel vor, mit russischer Seele, durch russische Augen – und im Falle der Lesung mit russischem Akzent, der, ob nun eigens kultiviert oder einfach nie verschwunden, fast schon die halbe Miete ist.
Staunend wandelt der Fernseh-Kaminer also durch Schloss Neuschwanstein, isst sich durch deutsche Küchen und Kantinen von Nord nach Süd und erzählt den Reutlingern davon. Irgendwo bei Oldenburg lässt er die Grünkohlkönigin ihr Krönchen verlieren und auf der Toilette einschlafen, während ihr Volk mit Schnapsgläsern ziellos über endlose Felder wandelt, bis keiner mehr Hunger hat: »Wie bei einer russischen Silvesterparty.«
Organe auf dem Teller
In Bayern wird in jedem Dorf das beste Weißbier der Welt gebraut und »schon zum Frühstück wie O-Saft getrunken, um fluffiger in den Tag zu kommen«. In der Pfalz wird's fleischig, »ich wusste gar nicht, dass Tiere so viele innere Organe haben, die auch noch so fantasievoll auf dem Teller ausgelegt werden können«, spöttelt Kaminer. Und geht näher auf das »Saumagen-Carpaccio mit Chiiiirn und Bärenvinaigrette« (Achtung, russisches H!) auf der Speisekarte ein, das sich – mit Brille betrachtet – dann doch nur als harmlose »Chiiimbeervinaigrette« entpuppt.
Sozialistische Tiere, nicht mit dem Thermomix, sondern mit Hammer und Sichel gekocht, stehen bei Kaminers Tochter auf dem Speiseplan. Sie bringt sie von ihren »Exkursionen in eine nicht mehr existierende Welt«, sprich, einer ostdeutschen Lebensmittelmesse, mit: »Die junge Generation mag die DDR, obwohl sie sie nie kennengelernt hat«, staunt Kaminer, der die Reutlinger lobt: »Sie sind ein lustiges Publikum«, sagt der lustige Autor und verneigt sich mit einem drolligen Kratzfuß im Stil der alten russischen Ballettschule ein letztes Mal. Er wird wiederkommen – mit den nächsten zwei, drei Büchern. Denn Stoff für absurde Geschichten liefert das Leben allemal genug. (GEA)