REUTLINGEN. Gaye Su Akyol ist der Paradiesvogel der Istanbuler Rock-Pop-Szene. Grellbunte Kostüme, gern mit viel nackter Haut, dazu ein Sound, in dem sich Nirvana mit anatolischen Hochzeitstänzen mischt. Ihre Mission hat die 39-Jährige, die in Istanbul Anthropologie studiert hat, im Titelsong zu ihrem Album »Istikrarli Hayal Hakikattir« von 2018 festgehalten. Im zugehörigen Video, im Stil eines cartoonartigen Trashfilms gedreht, sieht man sie am Steuerrad eines klapprigen Busses sitzen und den Querschnitt der Istanbuler Bevölkerung einsammeln. Flippige Mädchen steigen zu, ein altes Mütterchen mit Stock, Büroangestellte mit Zeitung unterm Arm und der Arbeiter, der gerade von Schicht kommt. Vorne verkündet ein Schild die Endpunkte der Tour: »Hayal« und »Hakikat«, also »Traum« und »Wirklichkeit«.
Soll heißen: Der Traum von Gaye Su Akyol ist, dass all diese so unterschiedlichen Bewohner der Millionenmetropole – und letztlich der Türkei insgesamt – es schaffen, in Toleranz miteinander zu leben. Im Lied gibt sich die Sängerin und Songschreiberin optimistisch: »Istikrarli Hayal Hakikattir« heißt wörtlich: »Der feste Traum ist Wirklichkeit«. Um dem nachzuhelfen, ist der alte Bus im Video mit Spezialfunktionen ausgerüstet. Ein Ruck am Ganghebel und das Gefährt hebt ab in einen Muppet-Show-artigen Fantasieweltraum. Auf einem fernen Planeten tanzen dann alle zu Gayes Musik, ob Punkerin, Businesstyp oder altes Mütterchen. Und Gaye reckt triumphierend die Baglama in die Höhe, das türkische Lauteninstrument, das in ihrer Musik im Wechsel mit der westlichen E-Gitarre den Ton bestimmt. Worauf – soviel Hommage an die trashig-erotischen Science-Fiction-B-Movies der 1960er à la »Barbarella« muss sein – ein Trupp Außerirdischer auftaucht, um die Sängerin per Diadem zur Königin der kulturellen Versöhnung zu krönen.
Nun gibt die Istanbulerin mit dem Sinn für soziale Utopien am 31. Mai den Headliner am zweiten Tag des Inter:Komm!-Festivals im Reutlinger Echaz-Hafen. Dass sie auch dort den Song schmettern wird über die Busfahrt zu dem Ort, wo Traum und Wirklichkeit endlich eins sind, ist anzunehmen. Allerdings heißt ihr neues Album »Anadolu Ejderi«, also »Anatolischer Drache«. Und darin ist der luftigleichte Optimismus von »Istikrarli Hayal Hakikattir« eminent dunklen Tönen gewichen.
Denn von einer Erfüllung ihres Traums kann keine Rede sein, in Istanbul so wenig wie im Rest der Welt. Erdogan sitzt als Präsident fest im Sattel und drückt seinen Konservatismus durch. Die Türkei ist aus der Frauenrechtskonvention des Europarats ausgetreten, Journalisten und Literaten sitzen in den Gefängnissen, Musiker werden wegen flapsiger Bemerkungen vor Gericht gezerrt. Der Pianist und Komponist Fazil Say, der schon mehrfach in Reutlingen aufgetreten ist, kann ein Lied davon singen. Queere Menschen sind Anfeindungen ausgesetzt, allerdings nicht nur in der Türkei, auch Deutschland verzeichnet einen deutlichen Rechtsruck.
Surreale Fabel
Gaye Su Akyol begehrt gegen diese Dinge auf, und es ist erstaunlich, dass sie in einer Türkei unter der Fuchtel Erdogans damit durchkommt. Aber die Istanbulerin hat eben nicht umsonst Anthropologie studiert. Für ihre Botschaft nützt sie die Legendentradition ihres Landes. Im anatolischen Kulturkreis werden Dinge gerne in poetische Sprachbilder verpackt. Daraus kann jeder lesen, was er will, der Erzähler ist jedenfalls schwer festzunageln.
So ist es auch bei Gaye Su Akyol. Ihr Song über die Reise zum Ort, an dem Traum und Wirklichkeit eins sind, ist so weit im Reich einer surrealen Fabel angesiedelt, dass man ihr nicht im Ernst vorwerfen kann, sie würde damit Werbung für die queere Szene machen. Und doch kann jeder, der will, darin die Botschaft entdecken.
Schatten des Drachen
So ist es auch mit ihrem neuen Album »Anadolu Ejderi«. Für was der Drache steht, der denn auch sofort in den ersten Zeilen des ersten Lieds beschworen wird, bleibt bis zum Ende der Platte mysteriös. Aber jeder, der J.R.R. Tolkiens Epos »Herr der Ringe« kennt, weiß: Wenn die Drachen kommen, wird es finster im Land. Nimmt man dazu, dass Gayes einzigartige Mischung aus Grunge, psychedelischem Rock und anatolischen Tänzen auf diesem Album einen geradezu abgrundtief düsteren Ton annimmt, dann weiß Bescheid, wer Bescheid wissen will.
Gleichzeitig lässt sich das Bild vom Drachen aber auch gerade andersherum lesen: als Ermutigung zum Aufbegehren. »Du hast aufgegeben, ich aber bin noch nicht fertig damit«, singt sie in einem Song. Auch wer dieses »Du« ist, das sich durch fast alle Lieder der Platte zieht, bleibt bewusst vieldeutig. An der Oberfläche ist in den Texten vom Schmerz einer unerfüllten oder zerbrochenen Liebe die Rede. Die anatolische Kultur hat in dieser Hinsicht einen geradezu überströmenden Schatz zu bieten – die unerfüllte Liebe ist eines der Zentralthemen der anatolischen Lied- und Gedicht-Tradition.
Beklagter Geliebter
Der besungene, beklagte Geliebte bleibt jedoch so ungreifbar, dass immer auch die Vorstellung mitschwebt, sie meine mit ihm ihr Land oder ihre Heimatstadt. Zumal Istanbul immer wieder bildhaft in den Texten auftaucht: die Häuser, die Menschen, die Schiffe und Möwen am Bosporus. Also könnte jenes Gegenüber, von dem sie sich im Stich gelassen fühlt, auch die Gesellschaft sein, in der sie lebt. Ein Gegenüber, das sich von ihr entfremdet hat, von dem sie aber doch nicht lassen kann.
Zusammen mit der dunkel pulsierenden Abgründigkeit, mit der diese Lieder daherkommen, liegt so eine Deutung nahe. Nur: Festnageln kann die Sängerin mit der hypnotisch raunenden Stimme darauf keiner. Und am Ende ist auch nicht gesagt, dass die dunkle Melancholie, die mal als Rock-Epos, mal als bluesgetränkte Ballade, mal als federnder Oriental Pop daherkommt, das letzte Wort haben wird. Träume dürfen weiter geträumt werden.
Festivalinfo
Das Inter:Komm!-Festival ist bei freiem Eintritt vom 30. Mai bis zum 1. Juni im Reutlinger Echaz-Hafen. Am Freitag spielen ab 19 Uhr Safnama und Ghetto Kumbé, am Samstag ab 18.30 Uhr Kolonel Djafaar, Nuju und Gaye Su Akyol. Am Sonntag ist ab 14 Uhr buntes Programm mit dem Puppentheater Die Poppets, Musik der Gruppe Muckemacher, Tanzaufführungen und Bands der Kulturwerkstatt. (GEA)
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Zumindest die Hoffnung, dass irgendwann irgendwo der Traum von einem Miteinander in Toleranz Wirklichkeit wird, bleibt. Und wenn man sich dafür von Gaye Su Akyol in einem klapprigen Bus auf die Venus kutschieren lassen muss. Die nächste Zusteigemöglichkeit dafür ist am 31. Mai beim Inter:Komm!-Festival des franz.K im Echaz-Hafen. Das Schöne daran: Das Busticket ist frei, genau wie der Eintritt zum Konzert. (GEA)