REUTLINGEN. Früher machte man sein Diplom, heute ist der Master die Krönung der akademischen Laufbahn. Alle erdenklichen Projekte sind zur Erlangung dieses Grades schon realisiert worden. Doch was der Reutlinger Stephan Dominikus Wehrle vorhat, dürfte zumindest an der Hochschule Reutlingen ein Novum sein: Wehrle schreibt als Masterarbeit seine erste Sinfonie, ein abendfüllendes Werk.
Verblüffend ist das, weil man an der Hochschule ja nicht Musik studieren kann. Wehrle, der in Trossingen seinen Bachelor in Musikdesign gemacht hat, ist denn hier auch für Design eingeschrieben, mit Fachrichtung »künstlerische Konzeption«. Vom Kontakt mit Kollegen anderer Sparten verspricht er sich Impulse. Professor Henning Eichinger, der den Studiengang betreut, kommt beispielsweise von der Kunst her. Am Campus in Reutlingen hat man Wehrles Musiktalent jedenfalls schnell erkannt – und ihn zum Leiter des Hochschulorchesters ernannt.
Wehrles Masterarbeit besteht denn auch nicht aus der fertigen Partitur, wie er erklärt. Vielmehr aus dem gesamten Komplex der Realisierung einer Sinfonie von der ersten Idee bis zur Aufführung. Bei seiner ersten Sinfonie ist Wehrle daher nicht nur Komponist, sondern auch sein eigener Konzertmanager, Probenleiter, Dirigent, PR-Agent und Fundraiser. Was ihm einen Stoßseufzer entlockt: »Die Komposition bräuchte einen ganzen Menschen, die Konzertorganisation auch und das Orchestrieren auch. Hier muss das alles ein einziger Mensch machen.«
Urauführung am 25. Oktober
Immerhin: Einen Teil der Liste hat er schon abgearbeitet. Ein Aufführungstermin samt Ort ist gefunden: Am Sonntag, den 25. Oktober, wird die Sinfonie erklingen, in keinem geringeren Ambiente als Reutlingens Marienkirche. Ein Orchester ist auch gefunden: das Pfullinger Martinskollegium sagte zu. Im März sollen die Proben beginnen, bis Ende Februar muss die Partitur daher fertig sein. Die endgültige Instrumentation will Wehrle im Probenprozess noch anpassen. »Jedes Orchester reagiert anders, hat seinen eigenen Klang.« Dann lächelt er: »Wie ich mich kenne, werde ich bis zur letzten Minute an der Instrumentierung feilen.«
Es ist nicht das erste Großprojekt, das er stemmt. Parallel zum Studium in Trossingen hat er Filme vertont oder das Sounddesign besorgt, so für die SWR-Produktion »Jagon«. Für den Soundtrack des Mystery-Thrillers »Alice« arbeitete er 2017 mit dem Nachwuchsorchester der Jungen Sinfonie zusammen. Er wirkte mit an der Raumklang-Gestaltung für den Deutschen Pavillon bei der Expo 2015 in Mailand. Vor einem Jahr führte die Studentenphilharmonie Tübingen sein Orchesterstück »Imaginary Landscape« auf.
Sein bislang größtes Musikprojekt war »Ebenen der Stille« für Mädchenchor, Gesangssolisten, Orgel, Ensemble, Elektronik und Klangsteine 2016 in der Wolfgangskirche. Die Aufführung, Jahresprojekt seines Studiums in Trossingen, mündete in seine Bachelorarbeit. Aus der wiederum Überlegungen für seine Sinfonie hervorgingen. In »Ebenen der Stille« ging es darum, die Stille eines Kirchenraums erfahrbar zu machen. In der Bachelor-Arbeit ging es um »Gefrorene Musik«: wie Architektur, ein Kirchenbau etwa, Musik beeinflusst und umgekehrt.
Doch nicht nur in Architektur, auch in der Natur und sogar im Kosmos finden sich »musikalische« Proportionen. Das ist sein Ansatz für die Sinfonie. Ein Beispiel solcher Proportionen ist der »Goldene Schnitt«: Ein kleinerer Teilabschnitt hat zum größeren dabei dasselbe Verhältnis wie dieser zum Ganzen. Oder, damit verwandt, die Fibonacci-Zahlenreihe: Die Summe zweier vorhergehender Zahlen ergibt immer die nächste. Die Reihe steckt in vielen Spiralformen, vom Schneckenhaus bis zur Galaxie. Das Arbeiten mit der Fibonacci-Reihe hat im Übrigen Tradition in der Neuen Musik: Auch der Reutlinger Komponist Nikodemus Gollnau, Dozent der Musikhochschulen Stuttgart und Trossingen, hat sie schon eingesetzt.
Ideal kommen diese Proportionen Wehrle zufolge im Dodekaeder zum Ausdruck – einem Körper, der sich fußballartig aus zwölf Fünfecken zusammensetzt. Schon Platon sah Wehrle zufolge im Dodekaeder den Kosmos symbolisiert, weil es alle anderen Körper mit einschloss. Überraschende Bestätigung bekam der antike Philosoph 2 400 Jahre später von einem französischen Astrophysikerteam. Es untersuchte 2003 Schwankungen der kosmischen Hintergrundstrahlung – und fand Hinweise, dass das Universum insgesamt wie ein vierdimensionales Dodekaeder geformt ist.
Dodekaeder als Klangskulptur
Wehrle jedenfalls plant eine Klangskulptur in der Form eines Dodekaeders in sein Projekt mit ein. Die zwei Meter hohe Grundform, mit einem befreundeten Tischler geschaffen, will er mit Schallwandlern ausstatten, die das Holz zum Schwingen bringen. Die tönende Skulptur soll bei der Aufführung in der Kirche stehen; ob sie in die Sinfonie selbst eingebunden wird, ist noch nicht klar.
Erst wollte Wehrle die komplette Sinfonie aus der Fibonacci-Reihe entwickeln. Das sei aber schwer umzusetzen, würde die Hörer auch ermüden, erkannte er. Es wird also auch frei komponierte Teile geben. Eine Untergliederung in Sätze ist nicht vorgesehen – die Sinfonie soll 50 Minuten lang am Stück durchlaufen. Für Abwechslung wird dennoch gesorgt sein. Zum einen ist auch diesmal Live-Elektronik vorgesehen, die den Orchesterklang verfremdet. Zum anderen wird auch die Orgel wieder eine Rolle spielen.
Zudem werden die Hörer durch ganz gegensätzliche Stile reisen. Was mit Wehrles Biografie zu tun hat. So kam er erst über die Kirchenorgel zur Musik, hat später dann länger in einer Mittelalter-Gruppe gespielt, ehe er viele Soundtracks schrieb. All das wird sich Wehrle zufolge in der Sinfonie spiegeln. Ein Übermaß an Dissonanzen, wie oft in Neuer Musik, sei keinesfalls zu erwarten. Schließlich gehe es ja um die Harmonie des Kosmos. (GEA)