REUTLINGEN. Die Stadt Reutlingen ist nicht arm an Kunst-Institutionen. Es gibt das Kunstmuseum mit seinen drei Standorten, den Kunstverein in den Wandel-Hallen, die Pupille im Ringelbach. Und dann gibt es noch den ewigen Geheimtipp: die Gratianusstiftung. Eine ganze Bürgervilla voll Kunst, verborgen in einem Wohnviertel voller verwunschener Gärten am Fuß der Achalm, fast eine Art Dornröschen-Domizil.
Und märchenhaft, was es darin zu entdecken gibt. Denn die Gratianusstiftung verfolgt ein völlig anderes Konzept als die übrigen Kunsthäuser. Dort, wo früher gewohnt, gelebt, gegessen und geschlafen wurde, begegnen sich nun Kunst- und Kulturobjekte aus Jahrtausenden. Der Bogen reicht von der Steinzeit bis zur Gegenwart, von Südamerika bis Ostasien. Bestückt aus dem, was das Sammlerpaar Hanns-Gerhard Rösch und die 2021 gestorbene Malerin Gabriele Straub zusammengetragen haben. Und was sie dann in die von ihnen gegründete Stiftung einbrachten.
Parcours mit rotem Faden
Normalerweise wechselt die Präsentation alle fünf bis sechs Jahre. Diesmal hat man schon nach vier Jahren neu gestaltet – um den 80. Geburtstag von Gabriele Straub zu würdigen. Deren Malerei bildet denn auch den roten Faden des einmal mehr von Kunstvereinsleiterin Julia Berghoff zusammengestellten Parcours. Sie ist der Stiftung schon lange eng verbunden, gehört inzwischen zum Vorstand.
Der geräumige Flur setzt gleich das Thema: Eine späte und eine frühe Malerei von Gabriele Straub begegnen sich. »Penthesilea« von 1984 zeigt die Künstlerin, wie sie mit energischen Pinselstrichen die Malwut der »Neuen Wilden« aufgreift. Das einzig Ruhige ist der in zwei Farbflächen geteilte Hintergrund.
Emanzipation des Hintergrunds
Es ist dieser sanft vibrierende Hintergrund, der später die Figuren förmlich verschluckt und zum eigentlichen Thema wird, wie Berghoff erläutert. Das Resultat kann man in »Schnee« von 2009 bewundern: Die Figur ist verschwunden, in Wirbeln von kühlem Weiß und Blau sind Bewegung und Ruhe raffiniert austariert.
In den vielen Räumen der zwei Stockwerke fächert sich Straubs Werk faszinierend auf. Wird mal dunkel, dann wieder komplett weiß; formiert collagierend die Wellenstrukturen von Poststempeln zum grafischen Ozean und lässt ausgeschnittene Formen aus Kunstzeitschriften wie Schiffe darauf schaukeln. Die Eitemperabilder wiederum entwickeln einen meditativen Sog. Einem in Gelbtönen wie ein Sonnentag flimmerndem Exemplar hat Berghoff eine Art Meditationskapelle reserviert.
Im Sog der Farbflächen
All die anderen Objekte scheinen auf Straubs Werke zu reagieren. Ein Punktebild von Jerry Zeniuk greift die Grundfarben auf, die bei Straub so zentral sind. Eine Abstraktion von Erwin Gross reflektiert die gestische Energie von Straubs Frühwerk. Während Raimer Jochims, enger Freund des Sammlerpaars, in seinen zwischen Bild und Skulptur changierenden Spanpattenobjekten einen ähnlich meditativen Sog der Farbräume inszeniert wie Straub, nur mit ganz anderen Mitteln.
Ausstellungsinfo
Die Präsentation »Zum 80. Geburtstag von Gabriele Straub« in der Gratianusstiftung, Gratianusstraße 11 in Reutlingen, wird am Samstag, 25. Oktober, von 16 bis 19 Uhr eröffnet. Um Anmeldung wird gebeten, der Eintritt ist frei. Danach ist jeweils montags 14 bis 18 Uhr geöffnet und jeden ersten Donnerstag im Monat 18 bis 20 Uhr, ausgenommen Feiertage. (GEA)
info@gratianusstiftung.de
So fällt der Blick auf immer neue Preziosen. Ein hochmittelalterlicher Miniaturchristus schaut neugierig aus einer Nische. Ein zweitausend Jahre altes Opfermesser aus Obsidian der altmexikanischen Colima-Kultur nähert sich verblüffend der Formensprache moderner Skulpturen an. Hier durch ein kleines, weich gerundetes Bronzeobjekt von Hans Arp vertreten, das mit seinem Glanz den Blick zu einer vergoldeten Göttin aus Tibet weiterleitet. Ein peruanisches Textilbild der Huari-Kultur erinnert mit seinem Schachbrettmuster gewebter Krieger an die Rechteckraster in den tabellenartigen Zeichnungen von José Heerkens.
Paul Klee wiederum scheint in seinen »Schösslingen« prähistorische Symbole aufzugreifen. Und die durch ein ausgeschnittenes Rosettenmuster durchbrochene Reutlingen-Karte Yvonne Kendalls korrespondiert mit Dorothee Rockes Arbeit, die an eine Schatzkarte oder eine technische Vermesseskizze denken lässt. Es ist Henning Eichinger, der mit großem Wellenmuster zurückführt zu den bewegten Farb-Ozeanen Gabriele Straubs. Hier in der Gratianusstiftung wird der Rundgang in der Tat zur Schatzfahrt. (GEA)

