REUTLINGEN. Es hat was von Märchen mit Happy End. Ein Ehepaar ohne eigene Kinder beschließt, anderen jungen Leuten unter die Arme zu greifen. Daraus entwickelt sich eine Stiftung, aus der seit 2001 bis heute 730.000 Euro an begabte Jungmusiker geflossen sind, oder an Ensembles, in denen solche spielen. Das Reutlinger Ehepaar Christel und Hans Dieter Guthörle steht hinter dieser Geschichte. Die Stiftung hat Hans Dieter Guthörle damals ohne weitere eheliche Konsultation als »Christel-Guthörle-Stiftung« eintragen lassen.
Die Guthörles unterstützen ihre Stipendiaten jedoch nicht nur mit Geld, sondern in allen Lebenslagen, von der Beschaffung von Auftrittskleidung bis hin zu Steuerfragen. Die Stipendiaten wiederum sind längst eine Gemeinschaft, man hilft sich gegenseitig, holt sich Rat. Fast alle der mittlerweile rund 30 Stipendiaten haben sich erfolgreich etabliert. Fünf tragen mittlerweile einen Professorentitel, darunter Hornist Christoph Eß, Pianistin Nathalie Dahme, ehemals Glinka, und Cellist Jakob Schall.
Planung für die Zukunft
Das Ehepaar Guthörle ist mittlerweile in den Achtzigern, er sogar 87. Da musste an die Zukunft gedacht werden. Bereits vor drei Jahren hat man Cornelius Grube, den Intendanten der Württembergischen Philharmonie Reutlingen (WPR), in den Vorstand geholt. Nun macht Stiftungsgründer Hans Dieter Guthörle auch den zweiten Vorstandsplatz frei - für seinen 31-jährigen Adoptivsohn Frazan Adil Kotwal.
Damit bekommt das zweite Märchen ein Happy End. Kotwal hatte in der indischen Metropole Mumbai Medien studiert und als Journalist gearbeitet, als er mit 24 seine Liebe zum Singen entdeckte - und seine Leidenschaft für die europäische Klassik. Dank seiner außerordentlichen Baritonstimme bekam er einen Studienplatz an der Stuttgarter Musikhochschule - wo ihn 2017 die neu eingeführten Studiengebühren überrumpelten. Kotwal arbeitete zeitweilig in mehreren Nebenjobs gleichzeitig, das Studium war in Gefahr. Bei einem Liederabend seiner Klasse im Reutlinger Dominohaus kam es zum Kontakt mit Christel Guthörle. Kotwal wurde Stipendiat; im Lauf der Jahre wurde der Kontakt zum Stifter-Ehepaar so herzlich, dass dieses den begabten jungen Mann adoptierte.
Wunsch, etwas zurückzugeben
»Die Stiftung hat meinen Traum ermöglicht, Musiker zu sein«, betont Kotwal. »Es war mir immer ein Bedürfnis, auch etwas zurückzugeben.« Dafür nimmt er in Kauf, dass sein ohnehin enger Terminplan noch enger wird. Ist er doch nach Abschluss seines Masters (Note 1,0) als freier Opernsänger gefragt. Er gibt inzwischen Liederabende auch in New York und London. Im Theater Heilbronn war er zuletzt als Graf in Mozarts »Figaros Hochzeit« zu sehen - und spielt dort von Februar an die Titelrolle im »Don Giovanni«.
Derzeit bemüht er sich um die deutsche Staatsbürgerschaft. Was nicht ausschließt, dass er auch in seiner indischen Heimat Werbung für die europäische Klassik macht. Die habe dort in der Konkurrenz mit klassischer indischer Musik und Bollywood keinen leichten Stand. »Meines Wissens bin ich der erste Inder, der im 'Don Giovanni' die Titelrolle singt.« Im Silvesterkonzert der Jungen Sinfonie Reutlingen im Georgensaal ist Kotwal mit Mahlers »Liedern eines fahrenden Gesellen« zu erleben.
Vorstandsposten ehrenamtlich
Im Vorstand gilt Arbeitsteilung: Kotwal ist für die persönliche Betreuung der Stipendiaten zuständig, Grube fürs Geschäftliche. Beide üben den Posten ehrenamtlich aus. Dass die Stiftung so gut wie keine Verwaltungskosten hat - den Schriftverkehr hat das Ehepaar Guthörle immer selbst erledigt - ist eines der Geheimnisse, weshalb man Jahr für Jahr 40.000 Euro an Fördergeldern ausschütten kann.
Weil beide Vorsitzenden stark eingespannt sind, will man die Zahl der Einzelstipendiaten begrenzen und stärker Ensembles und Institutionen fördern. Auch weil die angesichts sinkender öffentlicher Zuschüsse und steigender Preise darauf angewiesen sind. Derzeit profitieren von der Stiftung die Junge Sinfonie Reutlingen und ihr Nachwuchsorchester, die Gesellschaft der Musikfreunde Reutlingen (GdM) als Dach von sieben Laienensembles und ihr Musikwettbewerb sowie die Musikvermittlung der WPR.
Das Familiäre soll bleiben
Einzelstipendiaten fördert man aktuell drei: den aus Ungarn stammenden Pianisten András Lakatos, die Blockflötistin und Organistin Johanna Rist als erste Stipendiatin aus Reutlingen, derzeit im Studium in Freiburg, und den Weimarer Cellisten Lukas Plag, aktuell Student in München. Grube will mit der WPR die Stipendiatenkonzerte im WPR-Studio wieder aufgreifen, bei denen sich die jungen Begabungen als Solisten präsentieren können. Kotwal wiederum ist wichtig, dass die Stiftung auch weiterhin Familie bleibt, Gemeinschaft von Gleichgesinnten. »Wir bezeichnen uns auch als Stiftungsschwestern und Stiftungsbrüder.« Zur Stiftungsfamilie gehören inzwischen auch bereits 24 Stiftungsenkel, wie Christel Guthörle vorrechnet.
Als gute Seelen und Ratgeber sind die Guthörles weiterhin gefragt. Auch organisatorisch sind sie noch an Bord. Hans Dieter Guthörle wechselt vom Vorstand in den Stiftungsrat, dem seine Frau schon bisher angehört. »Aber nur vorübergehend«, betont er. »Mit 87 muss ich ja auch mal dran denken, in Rente zu gehen.« Weitere Stiftungsratsmitglieder sind Nathalie Dahme, Hans Hammann, Jazzgitarrist Michael Neßmann und seine Frau Eva Schyska. Eins steht fest, auch wenn Guthörles nun in die zweite Reihe getreten sind: Für ihre Stipendiaten und Ex-Stipendiaten ist bei ihnen immer ein Zimmer frei. (GEA)