STUTTGART. Es gab ihn wirklich, jenen Cyrano de Bergerac, über den Edmond Rostand ein fünfaktiges Schauspiel verfasst, Gérard Depardieu einen berühmten Kinofilm gedreht und Alfano eine Oper im Nach-Puccini-Sound geschrieben hat. Im 17. Jahrhundert war das, und als er zur Zeit des 30-jährigen Kriegs in die Elite-Truppe der Gascogner Kadetten eintrat, eilte ihm ein zweifelhafter Ruf voraus. Als schlagkräftiger Kämpfer zwar, doch auch als Draufgänger, dem der Degen stets locker saß, um Duelle auszufechten. Als Freigeist, der seine Haltung wider die Obrigkeit mit stolzer Arroganz zelebrierte und selbst ihm nahestehende Kameraden grob beleidigte. Daneben als Verfasser gefühlvoller Gedichte, schmachtender Liebesbriefe und Abenteuer-Romane im Kriegsmilieu, seinem deutschen Kollegen Grimmelshausen nicht unähnlich. Mit seinem Buch über »Die Staaten und Reiche des Mondes« begründete er gar das Genre der Science-Fiction-Literatur.
Abgründige Persönlichkeit
Wieso er das alles tat? In der modernen Psychoanalyse würde man es wohl mit »Defektkompensation« erklären. Denn aufgrund seiner übergroßen Nase fühlte er sich hässlich, gar entstellt. Für die Liebe einer Frau rein körperlich nicht geschaffen. Es sei denn, er träfe auf eine, die seinen Scharfsinn, seine drahtige Sportlichkeit, seine literarische Bildung, libertäre Gesinnung und Gewitztheit über alles Äußere stellen würde.
Aufführungsinfo
Weitere Aufführungen sind am 11., 23., 26. Dezember, am 2., 6., 11. und 19. Januar sowie am 1. und 20. Februar. (GEA)
Als Bühnenfigur verlangt dieser Cyrano nach einem Schauspieler, der diese schillernde Persönlichkeit mit all ihren Abgründen Gestalt annehmen lässt. Erst recht, wenn es, wie jetzt in Stuttgart, nicht Rostands Stück von 1897 mit seinen weitschweifigen Nebenhandlungen gibt, sondern dessen moderne Überschreibung von Martin Crimp. Diese ist erst vor wenigen Jahren uraufgeführt worden und wurde jetzt für Stuttgart vom regieführenden Intendanten Burkhard C. Kosminski und der Dramaturgin Gwendolyne Melchinger weiter verdichtet.
Wortakrobatische Sprachrhythmik
Umso mehr fokussiert sich die Sicht auf die Titelrolle, und was Matthias Leja hier bietet, fesselt über die pausenlos durchgespielten fünf Akte hin. Geradezu wortakrobatisch geht er dem Sprachrhythmus auf den Grund, jeder noch so kleinen Silbenendung nachspürend. Und die facettenreiche Persönlichkeit Cyranos erschließt sich bei ihm in ihrer Mehrdeutigkeit zwischen rüpelhafter Aggressivität, Hinterfotzigkeit, unerfüllten Sehnsüchten und Selbstmitleid.
Kosminski balanciert in seiner Inszenierung perfekt die Vermischung des Tragischen mit dem Komischen aus. Im gezielt karg den dramaturgischen Kern herausdestillierenden Bühnenbild von Florian Etti zeigt er über den gut zweistündigen Abend, wie Cyrano und die von ihm begehrte Roxane als Gefangene ihrer eigenen Neurosen nicht zueinander finden können. Da Cyrano glaubt, zu unansehnlich für Roxane zu sein, verhilft er seinem besser aussehenden Kameraden Christian dazu, mit von ihm verfassten Liebesbriefen und -gedichten Roxane zu gewinnen. Sie aber irritiert nach anfänglicher Begeisterung über den Schönling zunehmend, dass Christians Verhalten in immer größerem Widerspruch zur vermeintlichen Autorenschaft seiner Briefe steht. Als 15 Jahre später der Schwindel auffliegt, ist es zu spät.
Erfolgreiche Neuinszenierung
Josephine Köhler gestaltet die Roxane mit geradezu vulkanischem Aplomb und macht die subtil wachsenden Zweifel wie auch die schlussendliche Verzweiflung glaubhaft. Genauso überzeugend zeigt Felix Strobel die Entwicklung des Christian von der anfänglichen skrupulösen Tölpelhaftigkeit zum skrupellosen Betrüger im Fremdfederschmuck. Die eher stichwortgebende Rolle von Cyranos Freund Le Bret wird von Marco Massafra zu einem echten Sparringpartner aufgewertet, wie auch Sven Prietz, Reinhard Mahlberg und David Müller ihren Figuren das nötige Profil verleihen. Ein Übriges zur erfolgreichen Neuinszenierung trägt Hans Platzgumers Bühnenmusik bei, zwischen fetzigem Rap und einem genial platzierten Zitat aus dem Film »Love is a many splendored thing«. (GEA)