STUTTGART. Der Mythos von der größten Friedensdemonstration seit der Bergpredigt lebt weiter. Von den 32 Acts, die 1969 in Woodstock Rockgeschichte mitschrieben, stehen heute nur noch acht Solisten auf der Bühne. Neil Young ist der aktivste singende Protest-Veteran. Der ist 23, als er, neu dazugestoßen, mit der Band Crosby, Stills und Nash vor die 400.000 Besucher tritt und für ein besseres Amerika singt. Eine der wichtigsten Stimmen der Gegenkultur der 60er- und 70er-Jahre.
Als Mitglied dieser ersten Supergroup wird er zur Stimme der Hippie-Generation. Davon distanziert er sich in den 80ern. Sein Schaffen wird unverständlich. In den 90ern wandelt er sich zum wilden Grunge-Rocker. Dann setzt er sich 2006 an die Spitze der Anti-Irak-Kriegs-Bewegung. Für »Angry World« gibt’s 2010 den ersten Grammy. Monsanto, Ölbohrungen im Sioux-Gebiet, Volksverhetzung, Klimawandel. Der Protestikone gehen die Themen nicht aus, jedes Jahr erscheinen bis zu drei Alben. »Ich mache mir keine Gedanken darüber, was beim Publikum ankommt. Ich arbeite für mich. Wenn die Leute damit nichts anfangen können, haben sie Pech«.
75. Konzert in Deutschland
Dafür wurde die Woodstock-Legende am Dienstagabend auf dem Cannstatter Wasen umso frenetischer gefeiert. Sein 75. Konzert in Deutschland, haben Fans ausgerechnet. Bei der Anzahl seiner geschrieben Songs haben sie den Überblick verloren. Solch einen Output hat nur noch Bob Dylan (84) – zwei Exzentriker, die sich gegenseitig bewundern. Man verzeiht ihnen alles. Altmeister Young kränkelt, spielt wegen Ansteckungsgefahr nicht mehr in Hallen. Momentan zeigt er sich zwar in Bestform, aber es dürfte die letzte Welttournee sein.
Die Bühne wirkt mit den dunklen Instrumenten wie die Garage seiner alten Farm am kanadischen Stony Lake, wo er mit der Schauspielerin Daryl Hannah lebt. Der Godfather of Grunge betritt wortlos die Szene, sieht aus, als hätte er gerade noch am Auto rumgeschraubt: Alaska-Railroad-Cordmütze, offenes, gekrempeltes Flanellhemd, unter dem sich ein T-Shirt mit kanadischem Ahornblatt über den Bauch wölbt. Die 8.000 Zuschauer sind verwirrt, weil die Vorgruppe ausgefallen ist, aber umso überraschter über seine neue Band The Chrome Hearts: Denn an der Orgel sitzt der Sideman von Wilson Picket und Aretha Franklin, der 82-jährige Spooner Oldam. Und an der Gitarre Micah Nelson, Sohn der Folk-Ikone Willie Nelson.
Mit dem düsteren Klassiker Ambulance Blues geht's los. Vielleicht wegen der aktuellen Zeile »Ich hätte nie gedacht, dass ein einzelner Mann so viele Lügen verbreiten kann«. Die Wahl seiner 16 meist politischen Songs erspart ihm die Ansprache mit dem Publikum. Er lässt das 69er-Stück »Cowgirl In The Sand« folgen, womit die Linie des zweistündigen herrlich nostalgischen Abends festgelegt ist: sowohl zartbittere Stücke wie auch brutaler, lärmender Rock'n'Roll, die Song-Enden mit nicht enden wollendem Soli- und Soundgewitter. Von »Cinnamon Girl« bis »Old Man«.
Der Wasen steht vereint
Der Altmeister selbst spielt hemdsärmelig, verhalten, spiegelbildlich dazu die teuer bezahlte Sitzplatzfraktion vor der Bühne: höflich applaudierend. Nach der berührenden Ballade »Harvest Moon«, in der Youngs Engelsstimme nach 59 Bühnenjahren immer noch zum Tragen kommt, geraten die hinteren Stehplätze in Bewegung: »Hey, hey, my, my, Rock 'n' Roll can never die« – der Platz wird gestürmt. Keine Zweiklassengesellschaft, predigt ihr Folk-Rock-Gott. Als »Like A Hurricane« aufbrandet, steht der Wasen vereint. Die Alt-Hippies schwelgen, Marihuana-Geruch liegt in der Luft.
Nach zwei Stunden klatscht das Publikum Neil Young aus der Garage zurück. Er spielt die Protesthymne »Rockin‘ In The Free World«. Das hat er am Vorabend seiner 13 Europa-Love-Earth-Tour-Konzerte bei der »Fighting Oligarchy«-Veranstaltung von Bernie Sanders in Los Angeles angestimmt, zusammen mit Joan Baez. Gegen die Trump-Regierung, mit der er im Dauer-Clinch liegt. »Wenn ich jetzt in die USA zurückkehre, droht mir die Verweigerung der Wiedereinreise«, tat Young kund, angesichts seiner lautstarken Kritik an der US-Regierung auf seinem neuen Album »Talking To The Trees«. Wohl der Grund, warum er kein Stück davon spielte. (GEA)


