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Aktuell Rezitation

»Proletenpassion« in Zimmermann-Gedenkstätte in Dettingen

WLB-Intendant Friedrich Schirmer und Schauspieler Marcus Michalski mit Auszügen einer Revolutionsrevue

Friedrich Schirmer und Marcus Michalski bei ihrem Auftritt in der Zimmermann-Gedenkstätte.  FOTO: RANDECKER
Friedrich Schirmer und Marcus Michalski bei ihrem Auftritt in der Zimmermann-Gedenkstätte. FOTO: RANDECKER
Friedrich Schirmer und Marcus Michalski bei ihrem Auftritt in der Zimmermann-Gedenkstätte. FOTO: RANDECKER

DETTINGEN. Wer schreibt Geschichte? Eingestimmt mit Bert Brechts »Fragen eines lesenden Arbeiters« rezitierten der Intendant der Württembergischen Landesbühne Esslingen (WLB) Friedrich Schirmer und Schauspieler Marcus Michalski in der Sonntagsmatinee in der Wilhelm-Zimmermann-Gedenkstätte im Johann-Ludwig-Fricker-Haus aus einer gekürzten Version der »Proletenpassion«, die derzeit auf dem WLB-Spielplan steht.

Alles begann mit den Bauernkriegen 1514 und 1525: »Nichts denn die Gerechtigkeit Gottes«, hieß damals die Losung der Geknechteten. Thomas Münzer zückte, so Zimmermann, »das republikanische Schwert«. 130.000 Aufständische fielen, konstatierte Michalski, und Schirmer spielte die Passionssongs ein: »Des Bauern große Not« oder »Tausend Haufen sind wir jetzt und haben genug gelitten«.

»40 Jahre Freiheit auf der Bühne«, hieß das Motto der gut besuchten Veranstaltung im Rahmen des diesjährigen Literatursommers (»Der Freiheit eine Gasse!«). Was Schirmer am Theater, dem er seit über 50 Jahren verbunden ist, interessiert: Geschichten zu erzählen, die das Publikum berühren. Dabei waren die Erfolgsstücke »Der Arme Konrad« (1985) und die »Bauernoper« (2015) undenkbar ohne die historisch-dramatische Vorlage des früheren Dettinger Pfarrers und Geschichtsschreibers Wilhelm Zimmermann.

Marcus Michalski war schon 2000 während der Stuttgarter Staatstheater-Intendanz Schirmers dabei, als er mithalf, Mörikes »Hutzelmännlein« auf die Bühne zu bringen. Mörike sah die Dachstube eines schwäbischen Pfarrhauses als »den günstigsten Ort« für sein dichterisches Schaffen; das gleiche galt für seinen Freund, für Zimmermanns »literarische Industrie« und dessen im Pfarrhaus in der Milchgasse verfasstes Hauptwerk.

»Gott grüß dich, Gesell, was hast du für ein Wesen?« Michalski beantwortete diese Frage aus dem »Armen Konrad« von Friedrich Wolf mit den Worten: »Der arme Mann in der Welt mag nit mehr genesen! Es muß der Gerechtigkeit wieder ein Gaß gemacht sein! Genug Geselln, Schwätzens. Wem’s Blut jetzt nit kocht, der leg sich in die Federn und nehm sich ein Bettfläsch dazu! Wem’s anders ist, der kommt mit mir. Nauf denn nach Dettingen!«

Bantelhans in Weltliteratur

So fand Bantelhans vor hundert Jahren (Uraufführung in Stuttgart) seinen Platz in der dramatischen Weltliteratur. Dem Regisseur Klaus Hemmerle gefiel es allerdings, genau diese Stelle in der Tübinger Freilichtaufführung vor zehn Jahren zu streichen. Und es gab eine kleine szenische Lesung, eine Art »Welturaufführung«, die Sterberede aus dem bis heute noch nirgends gespielten Zimmermann'schen Trauerspiel »Masaniello«. Im Mittelpunkt der Matinee stand jedoch die »Proletenpassion«, eine Revue aus den 1970ern mit Songs der Rockband Schmetterlinge aus Wien und Texten von Heinz R. Unger, ausgegraben in seiner letzten Spielzeit vom Esslinger Theaterleiter.

Fünf Jahrhunderte umfasst diese Chronologie: Bauern-, dann bürgerliche Revolution, Pariser Commune, Oktoberrevolution, Faschismus und bis hinein ins Heute. Den stalinschen »Säuberungen«, so steht es im Textbuch des WLB-Schauspielers, fielen bis zu 30 Millionen Menschen zum Opfer; und am Ende der Nazi-Herrschaft waren es 55 Millionen Tote im bisher größten Krieg.

Die Lehren in Europa nach 1945: Aus der Geschichte lernen – »im Vorwärtsgehen«! Dieses Schlusslied rundete die Matinee ab. Eine angeregte Diskussion schloss sich dem Vortrag der WLB-Urgesteine an. Der 72-jährige Friedrich Schirmer, mit Gastspielen auch in der Metzinger Stadthalle und sogar 1999 auf Privatinitiative in der Aula der Dettinger Schillerschule (»Tagebuch der Anne Frank«), wird Ende des Monats in den Unruhestand verabschiedet. (gr)