REUTLINGEN. Das Idealbild eines musikalischen Interpreten ist nicht die Selbstdarstellung, das Hervorheben des eignen Ichs, sondern das Wirken im Dienst des jeweiligen Komponisten. Dazu gehört die Vertiefung in die Epoche, in das Werk, in die Welt des Komponisten.
Bei Stefan Viegelahn, der in der Marienkirche das vorletzte Konzert des Reutlinger Orgelsommers gestaltete, hatte man genau diesen Eindruck. Dementsprechend war auch die Programmgestaltung durchdacht, was freilich auch eine Kunst für sich darstellt. Kein Zusammenwürfeln oder beiläufiges Nebeneinandersetzen, sondern etwas, das für den Zuhörer nachvollziehbar ist und ein ausgewogenes Verhältnis von Aufruhr, Spannung und Ruhemomenten bietet.
Viegelahn, Orgelprofessor an der Musikhochschule Frankfurt, füllte die erste Konzerthälfte mit barocken Orgelwerken und würdigte in der zweiten Hälfte den Jubilar Louis Vierne mit dessen vierter Orgelsymphonie, wobei all die Ausgewogenheiten und Finessen eines guten Programms berücksichtigt waren.
Vom barocken Komplex sei Johann Sebastian Bachs Präludium mit Fuge in G-Dur BWV 550 exemplarisch herausgegriffen. Viegelahn setzte das Thema wie Steinchen nebeneinander, fest und geduldig jeden Ton würdigend. Wie Bausteine, gestapelt oder gereiht und nicht gestört durch ein unangebrachtes Sichhervorheben. Dies ließ einen tiefen Einblick in das kunstvolle mathematische Gefüge der Komposition zu. Auch die Werke der beiden Hamburger Komponisten Matthias Weckmann und Heinrich Scheidemann und eines von Georg Philipp Telemann waren abwechslungsreich, akkurat und detailliert gestaltet.
Maßlose Spannung
Mit Louis Vierne kam dann der Umbruch. Die zweite »Hochkultur in der Orgelliteratur«, wie Torsten Wille die französische Orgelromantik der Jahrhundertwende bezeichnete, brachte eine ganz andere Vielfalt mit sich. Dumpf und drohend erhob sich zunächst ein Ton, eine Melodie, bald begleitet von Akkorden, die sich wie Schulter an Schulter aneinanderlehnten. Energisch, »risoluto« und machtvoll der zweite Satz, hier ganz ohne barocke Sachlichkeit, stattdessen mit emotionaler Wucht und Erhabenheit. Das Menuett brachte in dem von Viegelahn gespielten schnelleren Tempo eine Pfiffigkeit mit sich, einen Witz, eine heitere Sorglosigkeit wie von spielenden Kindern.
Der vierte Satz war das letzte Innehalten vor dem strahlenden Finale, ein expressives und poetisches Kleinod. Die unruhige und suchende Melodie des letzten Satzes, zeitweise bohrend und bebend, wie eine stattliche Festung aufgestellt, das massive Klangmaterial, die maßlose Spannung, gepaart mit Virtuosität – das war ein grandioser Schlussstrich. Ein Schlussstrich unter ein in sich stimmiges und gehaltvolles Konzert mit einem Organisten, dem die Erfahrung mit Rieger-Orgeln anzumerken war. (GEA)