TÜBINGEN. Spätestens seit seinem in über 40 Sprachen übersetzten Weltbestseller »Die Vermessung der Welt« (2005) wird das Erscheinen jedes neuen Buches von Daniel Kehlmann als literarisches Ereignis gefeiert. Seinen im Oktober erschienenen Roman »Lichtspiel« hat der 1975 in München geborene Schriftsteller am Dienstagabend auf Einladung der Buchhandlung Osiander im großen Saal des Kinos Museum in Tübingen vorgestellt.
Dass es ein Roman ist und keine Biografie beziehungsweise kein Buch, das Geschehenes unmittelbar abbildet, schien ihm im moderierten Gespräch mit Ingrid Abeln ein Anliegen zu betonen. Kehlmann erzählt vom österreichischen Filmregisseur Georg Wilhelm Pabst (1885-1967), üblicherweise als G. W. Pabst bezeichnet, und dem Leben in der Nazi-Diktatur.
Misserfolg in den USA
Pabst hatte in den 1920er-Jahren zu den bekanntesten Ufa-Regisseuren gehört und etwa die damals noch junge Greta Garbo gefördert. Als Adolf Hitler an die Macht kam, war er für Dreharbeiten gerade in Frankreich. Er beschloss, in dem Nachbarland zu bleiben, und verwirklichte noch einen weiteren Film dort, bevor es ihn nach Hollywood zog. Wo er, wie Kehlmann im Gespräch erläuterte, nahezu jedes kreativen Einflusses beraubt, drehen durfte, »A Modern Hero« (1934), was zu einem gehörigen Misserfolg führte.
Als der Zweite Weltkrieg begann, war Pabst auf Familienbesuch im von Nazi-Deutschland einverleibten Österreich. Er begann, wieder im Deutschen Reich zu drehen: die Filmbiografien »Komödianten« und »Paracelsus«, die historische Figuren der deutschen Geschichte verklärten. Seine dritte Regiearbeit, »Der Fall Molander«, 1944 in den Barrandov-Ateliers in Prag komplett abgedreht, befand sich bei Kriegsende im Schnitt. Der Film gilt als verschollen.
Kehlmann las eine Szene aus »Lichtspiel«, in der Propagandaminister Joseph Goebbels dem durch seine Abkehr von Deutschland bei den Nazis in Ungnade gefallenen G. W. Pabst seine Optionen aufzeigt: Kooperation mit dem Regime oder das Verschwinden in der Bedeutungslosigkeit und eventuell Lagerhaft. Eine großartig geschriebene Szene. Dämonisch, perfide und bedrohlich, surreal und gleichzeitig voller Situationskomik. Wie schon Ernst Lubitsch, Charlie Chaplin oder auch Vladimir Nabokov erkannt hätten, habe der vollkommen totalitäre Alltag auch etwas Lächerliches, sagte Kehlmann im Gespräch. Und von diesem Alltag, ausgehend von der Filmindustrie, habe er erzählen wollen.
Versuch über das Böse
Es sind Geschichten vom Mitläufertum, vom Sich-selbst-Belügen, die das Buch facettenreich auffächert. Anne Burgmer hat recht, wenn sie im Kölner Stadt-Anzeiger schreibt: »Es ist eine Geschichte aus der Vergangenheit, die uns mit Fragen konfrontiert, die auch in der Gegenwart einer Beantwortung harren.« Ebenso wie Thomas Andre, der im Hamburger Abendblatt über Kehlmanns Ansatz befindet, es sei ein »großer, fiebriger, plastischer, ein unterhaltsamer Versuch über das Böse«.
Pabsts Ehefrau Trude lässt Kehlmann in einem Nazi-Lesezirkel erfahren, wie gefährlich es ist, sich, selbst bei scheinbar unverfänglichen Themen, eine eigene Meinung zu bewahren. Zu den historischen Figuren, die der Autor im Buch auftreten lässt, zählen auch der britische Humorist P. G. Wodehouse und die deutsche Regisseurin Leni Riefenstahl. Letztere »ist bei mir ein Monster«, sagte Kehlmann. Während andere, nicht zuletzt G. W. Pabst selbst, differenziert gezeichnet sind. Glaubt der Regisseur im Roman wirklich, in seinem letzten Film in der Nazi-Zeit die ihm auferlegte verlogene Botschaft heroisch sabotiert zu haben?
Ein Buch wie ein Film
Kehlmann sagte, er habe sich diesen nicht existenten, »fiktiven Film sehr klar vorgestellt«. Er schildert ausführlich, wie dieser gedreht wird. »Was ich hoffe, was ich versucht habe, ist, dass man nach der Lektüre auch ein bisschen das Gefühl hat, etwas von dem Film gesehen zu haben.« Moderatorin Ingrid Abeln erklärte, dass ihr das ganze Buch wie ein Film vorkomme.
Nach Daniel Kehlmanns Lesung bildete sich eine lange Schlange im Foyer. Viele ließen sich »Lichtspiel« oder frühere Romane wie »Tyll« vom Autor signieren. (GEA)