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Olla Amoura rappt in Reutlingen gegen das Trauma

Nach dramatischer Jugend nimmt Olla Amoura ihr Leben als Teil einer Hip-Hop-Crew in die Hand.

Olla Amoura vor dem franz.K, wo sie wöchentlich mit dem TALK-Projekt probt.  FOTO: KNAUER
Olla Amoura vor dem franz.K, wo sie wöchentlich mit dem TALK-Projekt probt. FOTO: KNAUER
Olla Amoura vor dem franz.K, wo sie wöchentlich mit dem TALK-Projekt probt. FOTO: KNAUER

REUTLINGEN. Wenn am 2. Juli im Echaz-Hafen junge Hip-Hop-Talente des »TALK«-Projekts zur Musik der Württembergischen Philharmonie rappen und tanzen, wird auch Olla Amoura auf der Bühne stehen. Wenn sie dann gegen Sexismus und sexuelle Gewalt gegen Frauen rappt, ist das für sie auch eine Art, das Trauma ihrer unterbrochenen Jugend zu verarbeiten. Eine Jugend, in der ein Krieg sie aus der Schule riss. Eine Jugend, die ihr fast den Tod auf dem Meer brachte. Sie in der Fremde in eine Ehe schlittern ließ, die schnell zerbrach. Und sie schließlich vor eine schwere Wahl stellte.

Olla erzählt ihre Geschichte im Biergarten des Café Nepomuk, eine energische junge Frau in schwarzem Sweatshirt und schwarzen Leggins, 23 Jahre alt, mit einem klaren, akzentfreien Deutsch, das nur so aus ihr heraussprudelt, vor allem, wenn sie Ungerechtigkeiten anklagt.

2013 explodierten Bomben im Zentrum von Damaskus. Zu diesem Zeitpunkt war die Familie von Olla Amoura bereits in den Libanon gef
2013 explodierten Bomben im Zentrum von Damaskus. Zu diesem Zeitpunkt war die Familie von Olla Amoura bereits in den Libanon geflüchtet. Die Anschläge galten der russischen Botschaft und dem Hauptquartier von Bashar Assads Baath-Partei. FOTO: BADAWI/DPA
2013 explodierten Bomben im Zentrum von Damaskus. Zu diesem Zeitpunkt war die Familie von Olla Amoura bereits in den Libanon geflüchtet. Die Anschläge galten der russischen Botschaft und dem Hauptquartier von Bashar Assads Baath-Partei. FOTO: BADAWI/DPA

Ihre Geschichte beginnt in Damaskus, als Tochter einer siebenköpfigen Familie: ein älterer Bruder, drei jüngere. Die Mutter hat englische Literatur studiert, einige Jahre am Gymnasium unterrichtet, ehe sie den Beruf wegen der Kinder aufgab. Der Vater hat Wirtschaft studiert, führt nun sein eigenes Unternehmen, spezialisiert auf den Handel zwischen Indien und den arabischen Staaten. Die Familie ist wohlhabend und doch diskriminiert – wegen ihrer palästinensischen Wurzeln. In Syrien bekommen sie keinen Pass, sondern nur ein Dokument, das sie als Palästinenser ausweist. »Oft bekommt man zu hören, warum seid ihr nicht in Palästina und kämpft gegen Israel«, erzählt Olla.

»Ich hatte meine Träume verloren, hatte nur noch meine Traumas«

Trotzdem: Man lebt gut, Olla geht auf eine zweisprachige Privatschule, lernt Englisch wie ihre zweite Muttersprache neben Arabisch, träumt vom Abitur und vom Studium in London oder New York. 2011 bricht der Arabische Frühling los, Unruhen auf den Straßen, Demonstrationen, gewaltsame Zusammenstöße mit den Sicherheitskräften. An Schulbesuch ist nicht mehr zu denken.

Der Aufstand wird zum Krieg, sie fliehen sie zur Großmutter in den Libanon. In deren Dreizimmerwohnung drängt sich die siebenköpfige Familie, zeitweise noch die eines Onkels. Auch hier kein Schulbesuch, immerhin schaut ein Aushilfslehrer vorbei. Auch sonst fehlt jede Perspektive in dem wirtschaftlich desaströsen Land, der Vater schlägt sich mit Jobs durch.

Zweieinhalb Jahre sind sie hier, dann bricht Ollas älterer Bruder auf, will es versuchen. Er reist nach Libyen, gelangt mit einem Onkel auf einem völlig überladenen Flüchtlingsboot nach Sizilien, schlägt sich mit gefälschtem Pass nach Norden durch. Schweden ist das Ziel, Ollas Bruder bleibt schließlich in Dänemark hängen.

Dorthin will ihm die Familie folgen. Ohne den Vater, der im Libanon bleibt, das Geld für die Flucht erarbeitet. Im April 2014 machen sie sich auf: die Mutter, die drei jüngeren Brüder und Olla samt der Box mit ihrem Kater. Erst nach Libyen, dort geht es nachts unter dem Kommando von Fluchthelfern aufs Boot. Versteckt hinter Felsen aus Angst vor der Küstenwache warten sie auf das Schlauchboot, das immer zehn auf das größere Holzboot weiter draußen bringt.

Dreihundert Menschen drängen sich auf dem Kahn, der mit hundert schon voll wäre. Beim Beladen verliert Olla ihre Familie, landet allein zwischen Fremden, an der Hand den kleinen Bruder, auf dem Schoß die Box mit dem Kater. Sie muss sich auf See ständig übergeben, gegen Mittag am nächsten Tag wird sie bewusstlos, kommt erst am Abend wieder zu sich. Ein junger Mann kümmert sich um sie, schafft es, dass ihr kleiner Bruder zur Familie am anderen Ende des Boots gelangt. Noch eine Nacht, noch ein Tag, ein Polizeischiff zieht in der Ferne seine Kreise, erst als das Boot kurz vor dem Untergehen ist, greift es ein. Olla wird als Letzte halbtot die Leiter hochgezogen.

Sie werden nach Sizilien gebracht, schlagen sich nach Rom durch. Von einem Mittelsmann bekommen sie gefälschte Pässe, mit denen sie von Mailand aus nach Dänemark fliegen. Mit dabei ist der junge Mann, der sich um sie gekümmert hat, er gilt bereits als Teil der Familie. Der Kater ist in Italien davongelaufen.

In Kopenhagen landen sie in einer Asylunterkunft, der ältere Bruder stößt dazu. Weil die Einrichtung sich nicht für Familien eignet, schickt man sie in die Kleinstadt Hanstholm, sie bekommen ein Ferienhaus zugewiesen. Über die Balkanroute kommt der Vater nach.

Olla lernt Dänisch, findet Freunde, doch keine Zeit zum Durchatmen – der junge Mann, der ihr auf dem Boot geholfen hat, hält um ihre Hand an. Olla, erst 16, ist völlig überrumpelt. »Man kommt von der Schule und wird gefragt, ob man heiraten will.« Sie willigt ein, unter dem Eindruck all dessen, was man gemeinsam durchgemacht hat. Sie heiraten nach islamischem Ritus im Dezember 2014. Die Ehe hält nicht lange.

Zunächst jedoch kommt es zwischen Ollas Eltern zum Bruch. Der Vater zieht aus, ihre Mutter strebt nach einem Neuanfang, drängt zum Aufbruch, nach Deutschland. Wieder neues Land, neue Sprache, Abschied von Freunden. Sie streben ins Saarland, wo Ollas Mann jemanden kennt. Dort jedoch sind die Aufnahmekapazitäten für Flüchtlinge erschöpft, sie werden nach Baden-Württemberg weitergereicht, landen in der zentralen Aufnahmestelle in Meßstetten, später in Gomadingen. Wieder eine ehemalige Ferienkolonie, die allerdings bald verkauft wird. Nun geht es weiter in eine Flüchtlingsunterkunft in Dottingen. Hier endlich kehrt ein Stück Normalität ein. Olla lernt Deutsch, macht den Hauptschulabschluss, in Reutlingen an der Laura-Schradin-Schule. Die Fahrt nimmt sie gerne in Kauf, endlich wieder Schule, endlich richtig Unterricht. Sie schließt mit einem sehr guten Schnitt ab.

Und sie kommt in Kontakt mit dem TALK-Projekt am franz.K. Eine Mitschülerin, die Teil von TALK ist, gibt an der Schradin-Schule einen Tanzworkshop. Olla macht mit, ist bald selbst bei TALK dabei. Sie absolviert zusätzlich einen Rap-Workshop. Seit fünf Jahren tanzt sie inzwischen bei dem Projekt, seit drei Jahren rappt sie auch, gegen die Benachteiligung von Frauen, gegen Rassismus. Und über ihre eigene Geschichte.

»Das TALK-Projekt hat mir eine Stärke gegeben, von der ich nichts wusste«

Dann der schwerste Moment: Ihre Mutter, in Deutschland nie heimisch geworden, kehrt mit den drei jüngeren Brüdern nach Dänemark zurück, wo Ollas älterer Bruder lebt. Olla entscheidet: Sie bleibt hier. Bei ihren Freunden von TALK, die wie eine Familie für sie sind. Hier, wo sie sich angenommen fühlt, wie sie ist. Und wo sie ihren Lebenstraum wieder aufgreift: »Ich hatte meine Träume verloren, hatte nur meine Traumas. Die Überfahrt, bei der ich fast gestorben wäre, der Vater weg, die Eltern getrennt ...« Jetzt jedoch hat sie wieder einen Traum: In den medizinischen Bereich gehen. Vielleicht sogar Ärztin werden.

Sie bewirbt sich für ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) am Tübinger Uniklinikum, arbeitet dort 2018/19 ein Jahr lang mit krebskranken Erwachsenen und Kindern. Sie fühlt sich gebraucht, kann anderen helfen – »eine schöne Zeit!« Dafür nimmt sie in Kauf, dass sie über Monate in einer Obdachlosenunterkunft leben muss, weil sie keine Bleibe findet.

Sie hält durch, findet schließlich eine Wohnung, erst in Pfullingen, dann in Reutlingen, nicht weit weg vom franz.K. Sie geht wieder zur Laura-Schradin-Schule, schließt ein zweites FSJ an, bewirbt sich für eine Ausbildung als Krankenpflegehelferin. Die soll nun im September beginnen. Davor gönnt sie sich eine Pause. Ein paar Monate durchatmen, nur für die Kunst da sein, an Songs feilen, proben, die Auftritte genießen mit dem TALK-Projekt. »TALK hat mir eine Stärke gegeben, von der ich nichts wusste«, sagt sie. »Und es hat mir die Möglichkeit gegeben, meinen Schmerz in Kunst auszudrücken.«

Sie wirkt angekommen nach all den Turbulenzen, die junge Frau im Nepomuk-Biergarten, wie sie sich ihre Zukunft ausmalt. Den Realschulabschluss nachholen, der ihr im ersten Anlauf nicht gelang, weil sie wichtige Menschen kurz vor der Prüfung durch Corona und Krebs verlor. Das Abitur machen. Medizin studieren. Das sind ihre Träume. Doch noch immer hat sie keine feste Aufenthaltsgenehmigung. Was sie frustriert. So lange sei sie schon hier, engagiere sich, habe sich integriert. Sie fühle sich als Teil dieser Gesellschaft, wolle hier auch wählen können. Mit ihrem Durchsetzungsvermögen wird wohl auch das kommen. (GEA)

 

AUFTRITTSINFO

Das TALK-Projekt tritt am 2. Juli um 19 Uhr mit der Württembergischen Philharmonie im Echaz-Hafen auf. Am 8. Juli präsentiert die TALK-Gruppe eine eigene Show ab 19 Uhr auf dem Echaz-Hafen. Olla Amoura tritt in beiden Konzerten auf, am 2. Juli mit einem Rap-Beitrag, am 8. Juli mit zwei Rap-Songs und als Teil der Tanzchoreografien. www.franzk.net