LONDON. Richtig gruselig wird es, wenn der dritte Geist auftritt, der Geist der künftigen Weihnacht. Denn er führt Ebenezer Scrooge in eine Welt, die keine Träne vergießt um einen alten Geizhals. Es ist zugleich eine Welt, die Scrooge so ganz und gar entspricht mit ihrer Gier und Kälte. Auch Tiny Tim, das schwache Kind seines Sekretärs Cratchit, ist gestorben. Es gibt keine Hoffnung in dieser künftigen Welt.
Wie es ist und wie es war, die gegenwärtige und vergangene Weihnacht, die Not und die vertanen Chancen, aber auch den Trotz, die Lebensfreude der Menschen, durfte Scrooge erleben, als er den zwei Geistern folgte, die zuvor kamen. Dieses Weihnachtsfest wird ihn verändern.
Vorbild für Onkel Dagobert
»A Christmas Carol« ist die berühmteste Weihnachtsgeschichte aller Zeiten, übertroffen nur durchs biblische Original. Charles Dickens war 31 Jahre alt, als er sie 1843 veröffentlichte. Ebenezer Scrooge gehört zu den bekanntesten Figuren der Weltliteratur. Viele beziehen sich darauf – Dagobert Duck, geiziger Onkel von Donald Duck, hört im englischsprachigen Original bis heute auf den Namen Scrooge McDuck.
Dickens‘ Weihnachtsgeschichte wurde unzählige Male verfilmt – zuerst 1901 als Kurzfilm, von dem heute nur noch wenige Minuten erhalten sind. Orson Welles sprach die Rolle 1938; Vincent Price spielte 1949 den Scrooge, Albert Finney 1970, George C. Scott 1984, Patrick Stewart 1999. Michael Caine war Scrooge in der Adaption der Muppets; Bill Murray spielte ihn in »Die Geister, die ich rief« (1988). Scrooge geistert durch Stumm- und Tonfilm, Hörspiel, Musical, Zeichentrickfilm. Ein Film von 2017 macht aus Dickens gar den »Mann, der Weihnachten erfand«.
Spuk am Heiligen Abend
Das ist ein wenig weit hergeholt. Das Weihnachtsfest gab es, lange ehe Dickens seine berühmte Geschichte schrieb. Und auch das britische Faible für Gespenstergeschichten wurde wohl kaum von ihm in Gang gebracht – obschon die Möglichkeit besteht, dass Dickens seinen Beitrag dazu leistete, die Schauermär mit dem Christfest zu vermählen. Diese Ehe hält bis heute. 1971 strahlte die BBC die erste Folge der Reihe »A Ghost Story for Christmas« aus; sieben weitere sollten bis 1978 folgen.
2005 wurde die Reihe wiederbelebt, seit 2018 gibt es die »Geistergeschichte für Weihnachten« wieder in jährlichem Abstand. »Woman of Stone« heißt die jüngste Folge, die voraussichtlich am Heiligen Abend 2024 ausgestrahlt wird. Auch bei Arthur Conan Doyle bediente sich die Serie mitunter – und natürlich bei Charles Dickens, der mit »The Signalman« einen weiteren Klassiker des Genres schuf.
Vater im Gefängnis
Im Charles Dickens Museum indes, in der Doughty Street 48 im Londoner Stadtteil Camden, hat man heute die Gelegenheit, einen Blick ins Leben des Autors zu werfen, der zu den bedeutendsten seiner Epoche gehörte. Dickens wurde 1812 in Portsmouth geboren und starb 1870 in Rochester. Sein Vater war als Schreiber für die Marine tätig, lebte weit über seine Verhältnisse, war hoch verschuldet und musste deshalb, nachdem er von Kent nach London übersiedelt war, ins Gefängnis, das berüchtigte Marshalsea Debtor’s Prison – und zwar mit seiner Familie. Nur Charles, zwölf Jahre alt, blieb in Freiheit, durfte jedoch keine Schule mehr besuchen, musste ins Arbeitshaus stattdessen – das prägte sein Werk und sein gesellschaftliches Engagement. Dickens war in jungen Jahren erbitterter Feind der politisch konservativen Partei der Tories und der Kirche; gegenüber dem Christentum zeigte er sich später moderater gestimmt.
In der Doughty Street 48 lebte Charles Dickens von 1837 bis 1839. Hier wurde das erste seiner zehn Kinder geboren, hier schrieb Dickens jene Werke, die ihn berühmt machen sollten – »The Pickwick Papers«, »Oliver Twist« und »Nicholas Nickelby«. Die Dauerausstellung des Charles Dickens Museums präsentiert mehr als 100.000 Objekte aus der gesamten Lebenszeit des Autors. Mobiliar, Bilder, Lampen, Geschirr, ein Weinkeller, Dickens’ Schreibtisch, auch sein einzig erhaltener Anzug lassen die Person und das Zeitalter auferstehen. Bei all dem Prunk, mit dem Dickens seine Räume füllte, bei all den vielen Porträts des Autors, die man an Wänden oder auf Tellern sieht, scheint die Angst vor der Armut seiner frühen Jahren immer mitzuschwingen. Im Dickens-Museum erfährt man auch, dass sich jedes vornehme Haus im viktorianischen London Igel hielt – weil sie als zuverlässige Jäger all der Insekten galten, die einen Haushalt seinerzeit plagten.
Fantasien im Gaslicht
Fragt man eine der Damen, die im Dickens-Museum Broschüren verteilen und Andenken verkaufen, woher die Vorliebe der Viktorianer für Gespenster, Séancen und Gruselgeschichten rühren könnte, dann antwortet sie, dass es an dem Licht gelegen haben könnte, an den Gaslaternen, die die Straßen Londons erleuchteten. Vielleicht waren sie es, die mit ihren Dämpfen die Damen und Herren, die da in Reifrock oder mit Zylinder durch die nebelverhangenen Straßen spazierten, die eine oder andere Spukgestalt herbeihalluzinieren ließen, ob nun den Geist der Weihnacht oder andere. (GEA)