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Aktuell Lesung

Nicht gern halb voll

TÜBINGEN Es sind schlechte Zeiten für Menschen, deren Herz für sprachlich Ästhetisches schlägt. Dieses vermaledeite Internet! Es zerdeppert zügig, was Generationen gedrechselt haben. Interpunktion, Groß- und Kleinschreibung, ach was, Rechtschreibung ganz generell, das alles implodiert derzeit quasi beiläufig. Braucht ja auch keiner!

Der Schriftsteller und Musiker Max Goldt
Der Schriftsteller und Musiker Max Goldt. Foto: dpa
Der Schriftsteller und Musiker Max Goldt.
Foto: dpa
Dass diese Welt schlechter wird, erkennt man nicht zuletzt daran, dass immer weniger Leute zuhören, wenn einer der großen deutschen Formuleure und Sprachverfallanprangerer seine Texte vorliest. Max Goldt füllte 2009 noch den Saal des LTT. Nun wurde seine Tübinger Lesung am Montag ins Zimmertheater verlegt, wenigstens dieses war wohlgefüllt. Im größeren Reutlinger franz.K blieben am Dienstag nach schleppendem Vorverkauf die Reihen deutlich lichter.

Die wenigen Getreuen genossen die Intimität durchaus. Gute zwei Stunden konnten sie dem verehrten Hirn beim Wirken zusehen und zugleich die nuancierte Aussprache gerade stimmhafter Konsonanten genießen – hört man hierzulande ja nicht ständig. Nebenbei hatte man Blickkontakt zu einer vorzüglichen Manie: Der Herr Autor bevorzugt sein Wasserglas voll. Ganz voll. Diesem Manne ist mit einem halb vollen Glas nicht gedient. Nach jedem einzelnen Schluck füllte er akribisch wieder auf bis zur Ideallinie. Fehlte hieran auch nur ein Millimeter, wurde unverzüglich die Zweitflasche hinzugezogen.

Die aktuelle Lesereise des 58-Jährigen Goldt gilt seinem neuen Hörbuch »Der Mann mit dem Mireille-Mathieu-Bart«. Das aber nicht überstrapaziert wurde und auf dem Büchertisch versehentlich gar fehlte. Dass treue Fans manches bereits bei früheren Lesungen gehört haben, so die vortreffliche Collage aus User-Meinungen eines Hotelbewertungsportals, tat keinen Abbruch.

Goldt nahm seine Zuhörer mit nach Katar, beschrieb dortigen Fahrstil und Falkenklinik, ließ Stefan Effenberg in Begleitung einer mit engen Dingen bekleideten Dame auftauchen und das kultivierte Flair seines Edelhotels schmählich zerplatzen: Dessen Bücherwände bargen beim genauen Hinsehen nur meterweise schwedische Nachschlagewerke. Er verlas Dramolette, in denen sich Gestalten wie eine Walla-Walla-Trulla mit Menschenliebehaschmich herumtrieben. Er dokumentierte, dass der als Pegida auftretende »Armes Deutschland!«-Menschenschlag in der Ära vor Pegida und Internet seine »querulatorischen Interpunktionsexzesse« (selbiges ein Begriff aus der Psychiatrie) per Leserbrief ausgelebt hatte. In Goldts Kosmos freut man sich an Melonenbuseninhaberinnen und Berufsberatern, deren Sitzhaltung er mit breitbeiniger Körperprahlerei beschrieb, an Körpersäuberungsgelees für 3 Mark 95, deren Duft Frauen provoziert, und an Heckscheibenaufklebern mit dem Wortlaut »Die Vornamen eurer dicken Kinder interessieren niemanden«. Wenn es nur so wäre. (GEA)