Logo
Aktuell Musik

Neuentdeckung eines barocken Superstars

REUTLINGEN. Sind sie jetzt völlig verrückt geworden? Oder ist das ihre Art, der Affenhitze zu trotzen? Jedenfalls werden die Sänger der Capella vocalis diesen Sonntag, 19 Uhr, in der Christuskirche Weihnachtskantaten aufführen. Nicht die bekannten von Bach, sondern unbekannte von Telemann.

Die Sache hat ihre Richtigkeit. Denn es geht um ein Projekt des Chors mit dem Südwestrundfunk (SWR). Im Auftrag des SWR nehmen die Schützlinge von Christian Bonath vier weihnachtliche Telemann-Kantaten als Ersteinspielung auf. Und der SWR sendet das Ergebnis an Weihnachten. Während die Capella aus dem aufgenommenen Material eine CD herausbringt.

Konkret geht es um die Kantaten zum zweiten und dritten Weihnachtstag und zum Sonntag danach. 1744 entstanden, schwebt diese Musik zwischen Barock und Frühklassik: »Das klingt ganz galant«, schwärmt Bonath, »da wetterleuchtet bereits die Aufklärung durch – es geht um Verständlichkeit.«

Unter dem Titel »Musicalisches Lob Gottes in der Gemeine (sic!) des Herrn« hat Telemann seinerzeit einen Zyklus für ein komplettes Kirchenjahr vorgelegt: 70 Kantaten, alle nach dem Muster Eingangschor, Choral, Rezitativ, Arie, Choral, Arie, Eingangschor gebaut. Als schlauer Kaufmann hatte Telemann an den Kirchen in Stadt und Umland einen Bedarf für so etwas ausgemacht.

»Faszinierend, dass Telemann in 70 Kantaten nie ermüdet«, findet Bonath. Faszinierend auch, wie er geschmeidigen Melodienfluss mit kunstvoller Vielstimmigkeit verbindet. Telemann, nicht Bach, sei der Superstar seiner Zeit gewesen. Außerdem sei er »ein Praktiker, der für Praktiker schrieb« gewesen. Seine Musik gebe deshalb einen exzellenten Einblick in die Musizierpraxis seiner Zeit. Und Telemann habe nachweislich selbst mit Knabenchören gearbeitet.

Folgerichtig singt auch ein sehr versierter Chorknabe am Sonntag drei der sechs Arien als Solist: nämlich Jan Jerlitschka. Die übrigen drei übernimmt der Tenor Jonas Boy, der an der Mainzer Musikhochschule studiert. Dazu sorgt das Barockorchester Pulchra Musica auf historischen Instrumenten für den typischen durchsichtig-luftigen Telemann-Klang. Das Konzert ist öffentlich.

Vor allem die Kirchenmusik Telemanns stand lange im Schatten Bachs – und Telemann selbst galt lange als oberflächlicher Vielschreiber. Längst weiß man, dass man damit Leichtfüßigkeit und Eleganz völlig zu Unrecht mit Oberflächlichkeit verwechselt hat. So gesehen gibt es gerade im Kirchenmusikwerk Telemanns noch viel zu entdecken. Die Capella hat nun damit angefangen – die jetzt anstehende Aufnahme soll, wenn es nach Bonath geht, noch lange nicht die letzte sein. (akr)

Capella vocalis: Sonntag, 26. Juli, 19 Uhr, Christuskirche, Reutlingen