TÜBINGEN. Dieses Konzert wird wohl in die Geschichte eingehen, in die lokale Musikgeschichte zumindest. Zum einen war die Stiftskirche am Sonntagabend – bei ein paar vorne des Platzes wegen abgebauten Bankreihen – nach Corona erstmals wieder so überfüllt, dass der weitere Zugang gestoppt werden musste. Zum anderen gaben Benjamin Wolfs Coro Vivo und die Freie Sinfonie Tübingen nicht nur Mozarts »Requiem«, sondern zuvor Beethovens »Zehnte«, als erstes von einem Laienorchester aufgeführtes Werk Künstlicher Intelligenz, kurz KI oder AI.
Damit hat es folgende Bewandtnis, wobei das beharrliche Engagement der Tübinger Organisatoren bei der Beschaffung der Noten gewürdigt werden muss: »Sinfonie X – The AI Project von L.v. Beethoven / Walter Werzowa« ist das Werk überschrieben. Von der Deutschen Telekom finanziert, hat ein Team aus Musikwissenschaftlern und KI-Fachleuten unter Leitung von Matthias Röder seine Computer aus hinterlassenen Skizzen Beethovens die fiktiven Sätze III und IV komponieren und von dem echten Komponisten Walter Werzowa in eine Endfassung bringen lassen. Ein erster Satz war schon in den Achtzigern konventionell aus Beethoven-Notizen rekonstruiert worden.
Das Vorhaben lässt sich bestenfalls als nette Spielerei, schlimmstenfalls als grober Unfug bewerten, beides aber notwendigerweise mit dem Zusatz: noch. Manches klang durchaus nach Beethoven, darunter auch die nach seinem Zeitgeschmack redundant auftrumpfenden Schlüsse.
Schicksalsmotiv in Dur
Das Thema des mittleren »Pathétique«-Satzes, so schön es ist, hätte Beethoven sicher genausowenig fast unverändert wiederverwendet, wie er das »Schicksalsmotiv« seiner Fünften in einer fröhlichen Dur-Variante recycelt hätte. Ein Scherzo wäre wohl, wenn schon nicht sowieso in Moll, dann doch mindestens in typischem Beethoven-Grimm dahergekommen.
Zu vieles klang dann doch ganz und gar nicht nach Beethoven, erst recht nicht nach dem späten: etwa die recht banale Harmonik mit ihren Baukasten-Modulationen. Eklatant unpassend wirkte der prominente Einsatz der Orgel, auch von Becken und Triangel. Der hohe Choralton hätte besser zu einem gefaketen Mendelssohn gepasst.
Die vielstimmig besetzte Freie Sinfonie spielte das Experiment unbefangen und engagiert. Das galt auch für eine schöne, aber stellenweise etwas ausfransende Interpretation von Mozarts »Requiem« in der Süßmayr-Fassung. Wobei der gleichfalls um die 70 Stimmen starke Chor seinen gut gestalteten Part sehr sicher einstudiert hatte. Manches plätscherte ein wenig, aber beispielsweise die letzten Takte des »Lacrimosa«, Mozarts letzte geschriebene Noten, hatten die ihnen gebührende Ausstrahlung von Tiefe.
Einen soliden Auftritt hatten auch die Vokalsolisten Ulrike Maria Maier, Livia Kretschmann, Christian Wilms und Johannes Fritsche als »echter«, wenngleich obertonreicher Bass, wobei der Zerlina-Charakter der Sopran-Stimme einen ungewöhnlichen Akzent setzte.
Das ganze Konzert samt der riesigen Besucherschar strahlte trotz des Toten-Themas Hochgestimmtheit aus, einschließlich des langen, jubelnden Beifalls. Das »Requiem« mag en détail etwas durchwachsen gelungen sein. Aber der Gesamteindruck von Chor, Orchester und Solisten war doch sehr positiv. Das Urteil über das AI-Stück hingegen neigt doch eher dem groben Unfug zu. Noch. (GEA)