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Aktuell Oratorium

Nach Texten von Anne Frank: »Annes Passion« von Evgeni Orkin in Tübingen uraufgeführt

Evgeni Orkins Oratorium »Annes Passion« nach Texten von Anne Frank ist in der Tübinger Stiftskirche im Beisein des Komponisten uraufgeführt worden. Beteiligt waren der Akademische Chor der Universität Tübingen, die Württembergische Philharmonie Reutlingen und Solisten.

Johanna Pommranz (am Mikrofon) und Sängerinnen des Akademischen Chors der Universität Tübingen in der Stiftskirche.
Johanna Pommranz (am Mikrofon) und Sängerinnen des Akademischen Chors der Universität Tübingen in der Stiftskirche. Foto: Christoph B. Ströhle
Johanna Pommranz (am Mikrofon) und Sängerinnen des Akademischen Chors der Universität Tübingen in der Stiftskirche.
Foto: Christoph B. Ströhle

TÜBINGEN. »Ich bin durcheinander«, singt der Chor im Epilog mit den Worten Anne Franks, »ich weiß nicht, was zu schreiben, was zu tun. Weiß nur, dass ich mich sehne ...«

»Deine Anne« sind die letzten Worte des Oratoriums »Annes Passion«, das der ukrainisch-stämmige jüdische Komponist Evgeni Orkin komponiert hat und das anlässlich des 80. Todestags von Anne Frank der Akademische Chor der Universität Tübingen zusammen mit der Württembergischen Philharmonie Reutlingen und Solisten in der Tübinger Stiftskirche uraufgeführt hat. Sehr plastisch und begreifbar wird darin - in Anne Franks eigenen Worten - das Leben, Sehnen und Leiden des jüdischen Mädchens, das 1934 mit seinen Eltern und seiner Schwester Margot aus Deutschland in die Niederlande auswanderte, um der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entgehen. Und das kurz vor Kriegsende dem Holocaust zum Opfer fiel - nachdem es von Juli 1942 bis August 1944 versteckt in einem Hinterhaus in Amsterdam gelebt und seine Erlebnisse und Gedanken in einem Tagebuch festgehalten hatte.

Arien, groß besetzte Chöre und Rezitative

Eben jenes Tagebuch, das zu den meistgedruckten Büchern der Welt gehört, nimmt Orkin als Grundlage für sein zwei Stunden dauerndes Oratorium mit Arien, groß besetzten Chören und Rezitativen. Otto Frank, Annes Vater, sind dabei die Rezitative zugeordnet, die aber auf Annes Einträgen beruhen. Er - bei der Uraufführung der Schauspieler Jürgen Herold - trägt die Texte sachlich sprechend vor. Wobei sich an einzelnen Stellen, die emotionalen Ausbrüchen gleichkommen, auch Anne - hier: die Sopranistin Johanna Pommranz - singend in die Rezitative einschaltet und ihre Gefühle zum Ausdruck bringt.

In einer der frühen Arien macht sie Jungen, die ihr Kusshändchen zuwerfen oder versuchen, sie am Arm zu halten, klar, dass sie bei ihr an der falschen Adresse sind. Das ist noch bevor sie mit ihrer Familie ins Versteck geht, weil ihr Leben bedroht ist. Das Zusammenleben der einzelnen Verfolgten nimmt im zweiten Teil des Oratoriums, »Versteck«, den größten Teil ein. Da lässt Orkin, ausgezeichnet mit dem Europäischen Kompositionspreis 2023, beispielsweise in einem Terzett Annes Mutter, Annes Schwester und Frau van Pels (die Anne im Tagebuch van Daan nennt) miteinander streiten. Das hat, in der Gestaltung auch durch das Orchester, einen humoristischen Anstrich.

Jugendliches Träumen

Als weitere Solistinnen und Solisten sind Maria-Barbara Stein, Franziska Bobe, Annekathrin Laabs, Alexander Stein, Martin Höhler und Kai Preußker dabei - und machen ihre Sache ausgesprochen gut. Herausragend ist Johanna Pommranz zu nennen, die Anne eine große Ernsthaftigkeit, ein jugendliches Träumen, vor allem aber eine stimmliche Anmut gibt, die einen direkt ins Herz trifft. Das gilt besonders in Annes letzter Arie, der Orkin, abweichend von seinem zeitgenössischen Stil, Form und Anmutung einer Arie des Barock gibt (selbst ein Cembalo ist dabei). Wären da nicht die kleinen Dissonanzen, die in diesem dritten und letzten Teil des Oratoriums, der mit »Krieg« überschrieben ist, die klaren melodischen Linien und Koloraturen stören. »Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass die Welt für uns je wieder normal wird«, singt Anne da. Wenn sie über die Zeit »nach dem Krieg« spreche, komme ihr das vor wie ein Luftschloss. Zuvor hat man sie davon tagträumen hören, mit ihrem Vater in die Schweiz zu fahren und einzukaufen. Das hat sie in ihrer Angst ruhig werden lassen.

Dem große Eindringlichkeit schaffenden Chor fällt Kraftvoll-Intensives, Empathisches zu. Und Kühl-Bürokratisches. Er ist es, der, verteilt auf einzelne Stimmen, die Verbote vorträgt, die den Juden auferlegt werden. Universitätsmusikdirektor Philipp Amelung, der, wie Uni-Rektorin Karla Pollmann im Beisein des Komponisten und von Landtagspräsidentin Muhterem Aras hervorhebt, die Uraufführung des Werks in Tübingen erst möglich gemacht hat, verantwortet als Dirigent eine durchgehend stimmige, Kontraste nicht herunterdimmende, kraftvolle und feinsinnige Wiedergabe. An deren Eindrücklichkeit auch die Württembergische Philharmonie um Konzertmeister Fabian Wettstein großen Anteil hat. Ob sie nun voll tönt, mit Tuba und Kontrafagott Unbehagen schafft oder mit Anklängen an Klezmer-Musik berührt, in der sich Schmerz und Fröhlichkeit vermengen. (GEA)