REUTLINGEN. Selten ist die Klanggewalt der Orgel mit solcher Ekstase entfesselt worden wie in der französischen Spät-romantik. Eine doppelgesichtige Ekstase, weil in dieser Musik oft Sinnenrausch und Andacht, Leidenschaft und kühles Kalkül direkt nebeneinander stehen.
Der Göttinger Stefan Kordes verkörpert diese Doppelgesichtigkeit sozusagen in Person. Im Gespräch ist er ein bodenständiger Pragmatiker mit norddeutsch-knochentrockenem Humor. Wenn er am Orgeltisch sitzt, wird er jedoch zum Klangmagier, der mit kühlem Kalkül die wildesten Tonschlachten steuert.
Rund 40 Besucher bilden ein eher intimes Auditorium – die Corona-Pandemie bremst auch beim Orgelsommer den Zustrom. Die wenigen indes werden ansatzlos in eine Art akustische Achterbahnfahrt mitgerissen. Die Toccata »Tu es Petra« von Henri Mulet (1878–1967) ist eine Sturzflut rotierender Akkordbrechungen, die sich aufbaut wie die Filmmusik zu einer rasenden Zugfahrt. Geschickt nutzt Kordes das Schwellwerk, um das Aufbäumen und Zurücksinken dieser Wogen fühlbar zu machen. Am Ende braust das Klanggeschehen mit der funkelnden Wucht der Prinzipalregister über die Hörer herein, präzise gesteuerte Klangdramatik, ein hitziges Naturereignis mit einem kühlen Kopf im Zentrum.
César Franck (1822–1890) ist sozusagen der Übervater hinter all den französisch-romantischen Klangausschweifungen. Sein »Pièce héroique« ist von gebändigter Kraft und einer feierlich-verhaltenen Dramatik mit seinem punktierten Zentralmotiv.
Gedämpfte Dramatik
Kordes spielt es erst gedämpft, mit geschlossenem Schwellwerk, lässt immer nur kurz die volle Dramatik aufblitzen. Im lyrischen Teil setzt er auf ein zartes Idyll von Flötenregistern. Natürlich mündet bei Franck, dem gottesfürchtigen Bach-Verehrer, alles in einem majestätisch sich aufbauenden Choral.
Das Hauptwerk aber ist an diesem Abend Louis Viernes sechste und letzte Orgelsymphonie von 1930. Musik, die von tiefster Verzweiflung bis zum übermütigen Freudentanz das Leben selbst in seiner Tragik wie Komik zu erfassen versucht. Packend erfasst Kordes die gequälte Unruhe des ersten Satzes, in dem sich die Verzweiflung in wütend aufblitzenden Akkorden Luft macht. Ein Ereignis, wie Kordes das nervöse Vorwärtsdrängen auf den Punkt bringt, das Gespenstische irrlichternder Diskantmotive inszeniert.
Einen wagemutigen Effekt zieht er in der »Aria« aus dem Ärmel: Die weitgespannte, ruhig sich entwickelnde Melodie mit einem oboenartigen Register lässt er am Ende in das Register »Krummhorn« kippen. Das Hirtenidyll von zuvor bleckt plötzlich dämonisch-grotesk die Zähne wie ein böser Geist, klingt hohl und buchstäblich »krumm«, was durch das Wabern des »Tremulants«, sprich des Vibrato-Mechanismus, noch verstärkt wird. »Das Krummhorn-Register gehört da auf jeden Fall hin«, beharrt Kordes hinterher – nicht zuletzt, um den bizarren Geistertanz des Scherzos vorzubereiten.
Geisterbahn und Trauermarsch
Der Geisterbahn aufblitzender Diskantmotive folgt im Adagio eine tief schmerzliche Meditation der Trauer mit lastenden Akkorden. Erst gegen Ende lichtet sich das Dunkel zu versöhnlicheren Tönen, die sich schließlich in verklärte Sphärenklänge auflösen. Worauf der Schlusssatz mit lärmender Fröhlichkeit über die Hörer hereinbricht, als sei plötzlich die Kirmes ausgebrochen. Auch das inszeniert Kordes sozusagen als präzisen Exzess, mit sinnigem Schwellwerk-Einsatz und hohem Tempo – bis hin zur flammend-funkelnden Schlusssteigerung.
Nach so viel Klangfarbenrausch gibt’s als Zugabe, sozusagen zum Runterkommen, Bachs Adagio BWV 564: eine innig-sanfte, andachtvolle Meditation.
Nächste Woche am Samstag geht’s mit Sopran, Flöte und Orgel weiter, dann sind Katharina und Peter Eberl zu Gast bei Torsten Wille an der Rieger-Orgel. (GEA)