BERLIN. Marian Gold, 70, lebte lange in den Tag hinein. Dann lernte er in Berlin die jungen Männer kennen, mit denen der gebürtige Münsteraner Alphaville ins Leben rief – und mit »Big in Japan« und »Forever Young« Welthits landete. Heute ist Gold, Vater von sieben Kindern, das einzige verbliebene Gründungsmitglied bei Alphaville – und unermüdlich. Nach einem Orchesteralbum und begleitender Konzertreise geht der Fan von David Bowie und Felix Mendelssohn nun mit »Alphaville Forever! Best of 40 Years« auf Tournee.GEA: Sie sind jetzt 70. Wie arrangieren Sie sich mit dem Älterwerden?
Marian Gold: Schlecht (lacht). Mir gefällt das überhaupt nicht. Aber es gibt ein paar Dinge im Leben, die kann man einfach nicht ändern.
Noch zeitloser als Sie selbst sind Ihre Lieder. »Forever Young« hat auf Tiktok gerade eine Renaissance erlebt. Kann man sowas steuern?
Gold: Nein, überhaupt nicht. Tiktok ist für mich ja eine chinesische Spionagesoftware, aber toll finde ich es trotzdem, wenn Kinder und Jugendliche dort mithilfe eines Songs wie »Forever Young« innerhalb von Sekunden kleine Geschichten erzählen. Das entspricht im Grunde dieser avantgardistischen Einstellung, die ich hatte, als wir mit Alphaville anfingen: nämlich, dass alle Menschen die gleiche Chance haben sollten, sich als Künstler auszudrücken.
Reicht diese Haltung, um vierzig Jahre von seiner Kunst leben zu können?
Gold: In meinem Fall kam eine gesunde Portion Größenwahn dazu. Oder sagen wir: Ich hatte keine Angst davor zu scheitern. Zudem brauchst du unheimlich viel Glück, um von deiner Kunst leben zu können. Das ist wie ein Lottogewinn.
Bewundern Sie sich heute für Ihren Mut, alles auf die Alphaville-Karte gesetzt zu haben?
Gold: Es war eine goldrichtige Entscheidung, allerdings hatte ich auch nichts zu verlieren und war mir des Risikos als junger Mann nicht bewusst. Für mich war das Musikmachen vielmehr der Ausweg aus der Langeweile, dem Nichtstun und dem allmählichen Niedergang meiner Person. Als ich überhaupt nichts mehr mit mir anzufangen wusste, war die Musik meine Rettung.
Warum fehlte der Antrieb?
Gold: Ich hatte kein Ziel. Ich wuchs in gutbürgerlichen Verhältnissen auf, mein Vater war Unternehmer; der Lebensweg, in die Firma des Vaters einzutreten und sie weiterzuführen, war vorgezeichnet. Doch das war absolut nicht mein Ding.
Haben Sie um die Firma einen Bogen gemacht?
Gold: Einen sehr weiten. Ich bin nach dem Abitur, auch aufgrund meiner Ziellosigkeit, bei der Bundeswehr gelandet. Zu meiner Zeit war es eigentlich üblich, dass man verweigerte oder nach West-Berlin abhaute. Typisch für mich war, dass ich erst nach meiner Zeit bei der Bundeswehr, aus der ich unehrenhaft entlassen wurde, nach Berlin ging. Selbst das war reiner Zufall.
Warum?
Gold: Ich habe die Kaserne in Plön verlassen, bin am Bahnhof in den nächsten Zug gestiegen, der zufällig nach Hannover fuhr. Als ich in Hannover ankam, stieg ich gegenüber in den Zug nach Warschau, in West-Berlin musste ich raus. Dann stand ich da am Bahnhof Zoo mit meinem Seesack und verbrachte die folgenden Monate mehr oder weniger in Obdachlosigkeit. Ich fand Freunde unter den Punks; diese Zeit war später die Inspiration für »Big in Japan«.
Gibt es Überlegungen, Ihr Leben zu verfilmen?
Gold: Nein, solche Pläne habe ich nicht. Man sollte lieber Filme über Menschen machen, deren Lebensläufe wirklich zu bewundern sind. Bei mir war das ja eher so eine Bilderbuchgeschichte. Ich kann seit 40 Jahren sehr gut von Alphaville leben und hatte auch nie die Befürchtung, dass das vielleicht nicht mehr gelingen sollte. Alles ist wirklich sehr gut gelaufen. Denn natürlich hatten wir nie einen Masterplan. Und wenn mir jemand 1984 gesagt hätte, dass es die Band 2024 noch gibt, hätte ich ihm nicht geglaubt. Ich hätte eher ge-dacht, dass ich mit 70 Jahren längst tot wäre.
War es mit Ihrer Antriebslosigkeit vorbei, als Sie die Musik entdeckten?
Gold: Ja, die Liebe zur Musik hat mein Leben auf den Kopf gestellt. Als Kind wollte ich Maler werden, mir fehlte aber das Talent. Als Musiker war ich plötzlich obsessiv, auf einmal hatte mein Leben ein Ziel. Gleichzeitig gab es diese tollen technologischen Möglichkeiten von denen wir extrem profitierten.
Was meinen Sie genau?
Gold: In den frühen Achtzigern kamen bezahlbare Musikinstrumente auf den Markt, die es einem ermöglichten, Songs zu schreiben, ohne ein Instrument beherrschen zu müssen. Diese kleinen Sequenzer waren ein Segen für uns; mit ihnen konnten wir unsere Ideen und Melodien, die wir im Kopf hatten, in die Praxis umsetzen. Alphaville wäre ohne diese Entwicklung und ohne Wundermaschinen wie den »Roland TR-808« Drumcomputer nicht vorstellbar gewesen. Mit einem Synthesizer hatten wir auf einmal ein ganzes Orchester zur Verfügung.
Es ist also kein Zufall, dass Mitte der 1980er so viele Popmusiker aufkamen, deren Lieder wir bis heute gern hören?
Gold: Nein, das war ganz sicher kein Zufall. Ich bin überzeugt, dass die Technik eine ganz neue Art von Künstlern hervorgebracht hat, die sonst wahrscheinlich nie eine Bühne betreten hätten. Überdies waren die Achtziger die vielleicht letzte glückliche, naive, sorglose Periode des 20. Jahrhunderts. Das Idyll endete 1986, als das Atomkraftwerk von Tschernobyl hochging. Es gibt eine Sehnsucht in uns allen, in eine Zeit zurückzukehren, die diese ganzen Probleme von heute noch nicht kannte. Die Musik aus den achtziger Jahren steht synonym dafür, dass es mal eine glücklichere Periode gegeben hat als die jetzige. Pop ist naiv. Gerade diese Naivität macht glücklich. (GEA)
Album: »Alphaville Forever! Best of 40 Years«
Live: 14. April, Liederhalle, Stuttgart