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Aktuell Ausstellung

Momente im Meer der Ewigkeit

»Vom Verrinnen«: Das Kunstmuseum Reutlingen/konkret zeigt, wie Künstler sich mit Zeit auseinandersetzen

Holger Kube Ventura vor Timo Klos’ serieller Fotoarbeit »Etwas mehr als 5 Minuten«.
Eine Wand voll Wellen-Momente: Holger Kube Ventura vor Timo Klos’ serieller Fotoarbeit »Etwas mehr als 5 Minuten«. Foto: Armin Knauer
Eine Wand voll Wellen-Momente: Holger Kube Ventura vor Timo Klos’ serieller Fotoarbeit »Etwas mehr als 5 Minuten«.
Foto: Armin Knauer

REUTLINGEN. Das Bild ist etwas versteckt, aber mit etwas Suchen findet man es. Das vielleicht gewagteste Motiv, das im Kunstmuseum Reutlingen je ausgestellt war: Zwanzig Minuten hemmungsloser Sex vor dem Auge der Kamera. Zu sehen in der aktuellen Schau »Vom Verrinnen« im Kunstmuseum Reutlingen/konkret im 2. OG der Wandel-Hallen.

Was skandalös wäre, hätte das Auge einer Videokamera das amouröse Geschehen festgehalten. Es war aber eine Fotokamera, die der Künstler Timo Klos aufstellte, ehe er sich mit seiner Partnerin zum Liebesspiel in die Laken warf. Der Clou: Während der gesamten 20 Minuten, die der Akt dauerte, blieb der Kameraverschluss geöffnet. Resultat: Während das Kameraauge glotzt und glotzt, verschwimmen die Einzelmomente auf dem resultierenden Abzug zu nebulösen Schlieren. Von der leiblichen Vereinigung bleiben für den Betrachter nur geisterhafte Schemen übrig. Die Momente des heißen Sex lösen sich im Dunst auf, demonstrieren die Vergeblichkeit, vergangene Augenblicke festhalten zu wollen.

Das ist denn auch der rote Faden in dieser von Kunstmuseums-Kurator Holger Kube Ventura zusammengestellten Schau mit dem Titel »Vom Verrinnen«, die diesen Freitag startet: die Ungreifbarkeit des Phänomens Zeit, mit dem wir dennoch so unausweichlich konfrontiert sind – schon durch unsere eigene Endlichkeit.

Nackt vor dem Spiegel

So sieht man in einer Fotoserie die Künstlerin Manuela Kasemir im Abstand von je sieben Jahren nackt vor dem Spiegel stehen. Die immerselbe Szene, doch mit zunehmenden Spuren des Alterns ihrer Haut. Und immer mit dem Spruchband in den Händen: »I’m afraid of death« – Ich habe Angst vor dem Tod. Die Zeit, wir können sie nicht festhalten – sie jedoch erhascht uns unentrinnbar.

AUSSTELLUNGSINFO

Die Ausstellung »Vom Verrinnen – Zeitkonzepte der Gegenwartskunst« ist vom 26. Februar bis zum 28. August im Kunstmuseum Reutlingen/konkret in den Wandel-Hallen, Eberhardstraße 14, Reutlingen, zu sehen. Eröffnung ist diesen Freitag, 25. Februar, um 19 Uhr. Geöffnet ist Mittwoch bis Samstag 11 bis 17 Uhr, Donnerstag bis 19 Uhr, Sonn- und Feiertage 11 bis 18 Uhr. An Karfreitag ist geschlossen. Zur Ausstellung erscheint ein Katalog mit Texten von Holger Kube Ventura. (GEA) www.kunstmuseum-reutlingen.de

Was schon das Entrée der Schau zeigt. Das uns in ein 50er-Jahre-Wohnzimmer stürzt. Auf vergilbter Ornament-Tapete prangen in Timo Klos’ Installation Schwarz-Weiß-Fotos aus Opas und Omas Jugend. Doch auch hier lässt sich der verflossene Moment nicht festhalten: Auf den Fotos sind Gesichter oder ganze Personen getilgt; die Mädchen und Jungen auf den Gruppenfotos haben die Augen geschlossen, entziehen sich innerlich.

So zieht sich durch die Ausstellung das Haschen nach dem Moment, der immer schon weg ist, wenn man zugreift. Das kann die Form einer melancholischen Fotoreise in die eigene Vergangenheit annehmen wie bei Manuela Kasemir, wenn sie sich selbst im verfallenden Haus ihrer Kindheit fotografiert. Es kann die Form einer tsunamiartigen Welle von Momenten annehmen, wenn Timo Klos mehr als 300 im Sekundentakt aufgenommene Fotografien einer Meeresoberfläche dicht an dicht auf eine Wand packt (Foto).

Experimente der konkreten Kunst

Mit solchen Serien verwandt sind Experimente aus dem Bereich der konkreten Kunst. Die waren letztlich Ausgangspunkt der Schau – sind wir hier doch in der konkreten Sammlung des Kunstmuseums. Und konkrete Kunst hat durch das Prinzip der Wiederholung einen untrennbaren Bezug zur Zeit-Thematik.

So füllt Dimitry Orlac wieder und wieder Bildformate geduldig mit Grafitstift, überzog Bernard Aubertin Leinwände mit weißer Farbe. Im bewusst vergeblichen Bemühen, den ultimativen weißen Augenblick zu fixieren, den letztgültigen Moment in Grafit. Wobei gerade im Bemühen, die Zeit anzuhalten, selbige in großem Stil verschwendet wird. Minutiöse Listen dieses Zeitverbrauchs beim Malen sind bei Orlac integraler Teil des Werks.

Ungreifbar und doch unausweichlich – es ist dieses Paradox, das die Schau so verflixt – und auch so spannend macht. Ein Paradox, das im ersten Corona-Lockdown erbarmungslos zuschlug und seinerseits zum Konzept der Schau beitrug, wie Kube Ventura erläutert: Im Lockdown erlebten die einen die Zeit als unerträglich verlangsamt – weil es nichts mehr zu erleben gab; die anderen als unerträglich beschleunigt – weil sie Homeschooling und Homeoffice unter einen Hut bringen mussten.

Bis der Selbstauslöser klickt

Die Zeit-Disziplin per se in der Kunst ist aber natürlich der Film, das Video. Auch die gibt es – zwar nur punktuell, aber da umso eindrucksvoller. So darf der Besucher bei Timo Klos live den Versuchen des Künstlers beiwohnen, den Moment per Selbstauslöser zu fixieren. Nur um zu erleben, dass das erlösende »Klick« der Kamera die Szene auslöscht. Gerade andersherum füllt bei John Woodman ein einziger Augenblick die Ewigkeit: ein endloser Blick über ein Tal oder auf eine spiegelnde Wasseroberfläche. Der Moment löst sich hier gerade nicht im Flüchtigen auf, sondern in der Dauer!

Was man dann als hochkomplexes Animationskino noch einmal beim finnischen Duo IC-98 mit Patrik Söderlund und Visa Suonpää erleben kann: In Gestalt des Blicks auf die menschenleere Markthalle der einstigen finnischen Hauptstadt Turku ziehen hier ganze Epochen vorüber. Jahrhunderte sind gedrängt auf 70 Minuten virtuos animierte Zeichnungen. Und erscheinen, begleitet von improvisierter Orgelmusik aus der Kirche von Turku, paradoxerweise dennoch extrem verlangsamt. Wahrlich großes Kino. (GEA)