REUTLINGEN. Der Ort, wo jugendliche Gruppendynamik sich zuspitzt, ist das Ferienlager. Weshalb der Vielfach-Buchpreisträger Saša Stanišic seinen Jugendroman »Wolf« genau dort spielen lässt. Den hat nun die Reutlinger Tonne als Jugendstück auf die Bühne gebracht, in einer Fassung von Tonne-Dramaturgin Alice Feucht, die auch Regie führt.
Um die Sache noch zu verschärfen, verlegt Stanišic das Ferienlager in den Wald. Zur Eskalation der Gruppendynamik kommt die Konfrontation mit der Natur. Problem nur: Wie bringt man die Natur auf die Bühne? Die Lösung ist der Geniestreich der Produktion: Die ganze Rückwand ist durch einen Gazevorhang belegt, auf den per Video ein mitteleuropäischer Urwald projiziert wird (Videobühnenbild: Adrian Zacke). Die Projektion ist so riesig, dass man sich als Zuschauer wirklich im Wald fühlt. Und die Darsteller stehen teilweise mittendrin – dann nämlich, wenn sie hinter der Gazewand agieren und dabei förmlich mit dem Videowald verschmelzen.
Unfreiwillig auf Ferienfahrt
Es geht um den Teenager Kemi, der eher unfreiwillig mit aufs Waldferienlager fährt. Zum Witz der Sache gehört, dass Kemi ein altkluger Miesepeter ist, der sich am liebsten in Bücher vergräbt und Sozial- wie Frischluftkontakt so weit es geht meidet. Im Ferienlager kann er sich der Natur nicht entziehen, weder ihrer Faszination noch ihrer Unheimlichkeit. Nicht entziehen kann er sich auch der Beobachtung, dass sein Zimmergenosse Jörg, ein streberhafter Sonderling, von der Rabauken-Clique des Lagers gepiesackt wird. Die Frage wird immer drängender: Raushalten oder nicht?
Alice Feucht legt das rund 70-minütige Stück in ihrer Bühnenfassung als klassisches Erzähltheater an. Magnus Pflüger gibt als Kemi den Ich-Erzähler; von seinem Bericht aus geht es in die Jugendlager-Szenen. Der Erzählteil ist dabei gegenüber den szenischen Teilen recht dominant geraten. Wodurch andererseits der humorvoll-verschrobene Erzählton der Vorlage gut zur Geltung kommt. Zudem lockert die Regisseurin die Erzählpassagen auf, indem sie dem Berichtenden immer wieder andere Figuren in die Parade fahren lässt.
Schrank als Schlafzimmer
Abgesehen von dem dominanten Video-Bühnenbild gibt es noch einen Schrank, der als Ferienlager-Schlafkoje dient. Und eine Eckbank samt Küchentisch als Kemis Zuhause wie als Ess-/Kochbereich des Ferienlagers. Hier sieht man Magnus Pflüger und Chrysi Taoussanis bereits beim Reinlaufen Gurken schnippeln und Salatblätter rupfen, in blauen Retro-Trainingshosen und bunt geblümten Hemden als Ferienlager-Einheitskluft (Schneiderei: Kathrin Röhm). Bevor es richtig losgeht, erklären sie dem Publikum außerhalb ihrer Rollen, was auf es zukommt. Und diskutieren, ob Pflüger mit vierzig (»Fast vierzig! Noch bin ich neununddreißig!«) überhaupt einen Teenager spielen kann. Das macht die Sache transparent und kann sogar als Brecht'scher Verfremdungseffekt durchgehen.
Die Handlung selbst entwickelt mit den drei Darstellern einen ganz eigenen Sog. Pflüger gibt stilecht den mürrischen Kemi, der nur seine Ruhe will, aber unweigerlich in die soziale Dynamik der Gruppe wie in den Bann der Natur hineingezogen wird. Chrysi Taoussanis gibt anrührend das sensible Mobbingopfer Jörg, macht aber vor allem aus dem genervt-überforderten Jugendleiter Piet eine herrliche Charakterskizze. Dazu kommt Bahattin Güngör, der als geheimnisumwobener Koch einen Zug des Fantastischen in die Sache bringt.
Zug ins Fantastische
Dieser Zug ins Fantastische ist, von der Mobbing-Thematik abgesehen, der zweite Rote Faden in Stanišic' Vorlage. Die wilde Umgebung bringt Kemis Fantasie zum Blühen und seine Ängste zum Vorschein. Er stellt sich Gameboy spielende Hirsche vor, sieht sich in seinen Träumen von einem gelbäugigen Wolf verfolgt. Die Natur ist bedroht und bedrohlich zugleich bei Stanišic. In der Bühnenfassung macht sich dieser Zug ins Fantastische in riesenhaften Zeichentrick-Projektionen Luft – sehr gelungen!
So gelingt der Tonne ein spannend erzähltes Kammerspiel, in dem sich in das Alltägliche das Unheimliche schiebt, und in dem die zwischenmenschlichen Spannungen so wild wuchern wie das Grün rundherum. (GEA)