REUTLINGEN. Es ist wieder da: Das inklusive Festival Kultur vom Rande. Und damit all die bunten Welten, die einen die Frage, was normal ist, ganz anders sehen lassen. Normal ist, wenn sich alle wohlfühlen und jeder den anderen so akzeptiert, wie er ist. Auf diesen Nenner brachte es Moderator/in Janboris Ann-Kathrin Rätz bei der Eröffnungsfeier am Samstagnachmittag im franz.K. Wo genau das höchst kreativ gefeiert wurde. Zwischen Interviews mit Gründerinnen und Organisatoren, Förderern und Trägern gab es nachdenkliche Liedkunst, einen gewitzten Sketch und berührendes Tanztheater. Und im Anschluss ein Stück, in dem getanzte und projizierte Bildwelten miteinander verschmolzen.
Moderator/in. Die gelebte Vielfalt fing mit Moderator/in Janboris Ann-Kathrin Rätz an, der/die sich als nonbinäre Transperson vorstellte. Sein/ihr Outfit beschrieb Rätz, damit es sich auch die sehbehinderten Besucher vorstellen konnten: orangefarbener Blazer, High Heels, Pferdeschwanz, geschminktes Gesicht. Auch die übrigen Akteure auf der Bühne beschrieb Rätz auf diese Weise. Die Hörbeeinträchtigten kamen in den Genuss einer Gebärden-Übersetzung durch Rita Mohlau. Die Botschaft von Rätz: Miteinander reden statt übereinander, Empathie statt Hass.
Ermöglicher. Kein Festival ohne Leute, die es vorantreiben. Natürlich kamen die beiden Schwestern zu Wort, die es vor 25 Jahren gegründet hatten. Rosemarie Henes stöhnte, die vergangenen Wochen seien geprägt gewesen durch »Pläne, Pläne, Pläne«. Elisabeth Braun frotzelte: »Die Welt will nicht immer so, wie wir wollen.« Um dann doch auszurufen: »Hier im Süden sind wir einmalig!« Auch Vertreter es Klick-Kulturbüros, das bei der Organisation mitwirkt, waren auf der Bühne – und testeten gleich den Rollstuhl-Bühnenaufzug im franz.K.

Träger. Tonne, franz.K und Kunstmuseum sind nunmehr Träger des Festivals. Tonne-Intendant Enrico Urbanek erinnerte sich an den Besuch einer inklusiven Theateraufführung vor Jahren an der Hochschule Reutlingen, wo es damals noch Sonderpädagogik gab. Was ihn so begeisterte, dass er an der Tonne ein inklusives Ensemble gründete. Sarah Petrasch vom franz.K berichtete über die Anstrengungen, das franz.K barrierefrei zu machen. Kerstin Rilling, Kunstvermittlerin am Kunstmuseum, erzählte, man sei schon lange sozial engagiert, kooperiere mit Schulen, gehe in Seniorenheime. Mit dem Festival wolle man sich weiter öffnen in die Gesellschaft.

Förderer. Ohne Geldgeber geht nichts. Die Kreissparkasse stützt das Festival, die Lebenshilfe, die Bruderhausdiakonie, die Stadt. Kulturamtsleiterin Anke Bächtiger lobte, das Festival sei »angekommen in der Stadt«. Julia Strieder vom Vorstand der Lebenshilfe erzählte von Erfahrungen mit ihrer Tochter mit Down-Syndrom: Die Informationen, welche Hilfen es gebe, musste sie sich mühsam zusammensuchen. Tobias Staib von der Bruderhausdiakonie mahnte, noch immer gebe es für Menschen mit Behinderung viele Barrieren, sichtbare und unsichtbare.
Tanz. Die inklusive Tanzgruppe Compañía Vera Cendoya aus Barcelona hatte schon mittags auf dem Marktplatz performt. Bei der Eröffnung zeigte sie einen Ausschnitt ihres Programms. Tänzerisch entsteht eine furiose Gruppendynamik zwischen einem Paar und seinem Sohn. Man vereint sich, man entzweit sich, einer wird ausgeschlossen, drängt sich dazwischen, wird zum Schlichter – ein mitreißendes Beziehungs-Kaleidoskop. Einen Ausschnitt aus der Tonne-Produktion »Tanzt!« präsentierten Alfhild Karle und Davide Degado: Die Tänzerin im Rollstuhl und der Profitänzer begegnen sich in fließenden Bewegungen – emotional der Schluss, als sie sich an seinen Armen aus dem Rollstuhl erhebt und mit ihm von der Bühne läuft.
Theater Thikwa. Das inklusive Theater Thikwa aus Berlin greift im Anschluss diesen Faden im Stück »Escher in Motion« auf. Zwölf Tänzerinnen und Tänzer agieren vor einer großen Leinwand, auf der animierte Grafiken erscheinen, die von Bildern des Künstlers M.C. Escher angeregt sind. Abstrakte Muster falten sich auf, Gänse- und Fischschwärme durchkreuzen die Fläche. Davor kommt es zu Annäherung und Entfernung, rasantem Rollschuhtanz, paarweisem sich Belauern, in sich versunkenen Soli. Ein Tänzer nutzt die Spastik in seinem Arm für einen zuckenden Breakdance. Eine Tänzerin lässt mystisch eine spiegelnde Kugel schweben. Ruhige Momente, in denen die Video-Bilderflut verschwindet, wechseln mit wilden Gruppenszenen, in denen sie wie Raubtiere die Zähne fletschen. Immer wieder wird ein Mann im Rollstuhl mit einbezogen, auch in die Rollschuhnummer. Beeindruckend, wie hier Akteure mit und ohne Behinderung völlig gleichberechtigt agieren. (GEA)