PARIS. An einem völlig anderen Problembereich setzt Lucie Rico, die dritte Prix-Premiere-Finalistin, mit ihrem Roman »Die Ballade vom vakuumverpackten Hähnchen« an: beim Umgang mit Nutztieren. Ricos zentrale Frage: Ist es überhaupt möglich, dass der Mensch ein humanes, ethisch vertretbares Verhältnis zu Nutztieren aufbaut, die er als Konsumartikel nutzt – und am Ende aufisst?
Was paradox klingt, exerziert Rico mit großer Lust in seiner ganzen Widersprüchlichkeit an einem Beispiel durch. Paula, eine Frau in ihren Dreißigern, hat dem mütterlichen Hühnerhof auf dem Land schon lange den Rücken gekehrt und lebt mit ihrem Partner, einem Architekten, in der Stadt. Am Sterbebett der Mutter jedoch findet sie sich in der Umgebung ihrer Kindheit wieder. Und obwohl sie überzeugte Vegetarierin ist, erfüllt sie dieser einen letzten Wunsch: Sie tötet den halbblinden Hahn Theodor und verkauft ihn mit einer Handvoll weiterer Hühner vakuumverpackt auf dem Markt.
Jedem Huhn seine Biografie
Was als Abschiedsgeste für ihre gestorbene Mutter beginnt, lässt Paula nicht mehr los. Statt den Hühnerhof wie geplant zu verkaufen, betreibt sie ihn weiter. Sie schlachtet, sie vakuumiert, sie verkauft – zum Missfallen der dörflichen Konkurrenz – auf dem Markt. Dabei entwickelt sie zu ihren Hühnern ein enges, ja familiäres Verhältnis. Jedes Huhn hat für sie eine Persönlichkeit, für jedes schreibt sie vor dem Schlachten eine Kurzbiografie, die sie dem Tier beim Verkauf beilegt.
Eine völlig neue Art der Tierhaltung nimmt da Gestalt an, ein völlig neues Verhältnis von Halter und Geschöpf. Paula lebt mit ihren Hühnern im wörtlichen Sinne. Sie holt sie zum Fernsehen auf die Couch, baut ihnen ein Puppenhaus mit Rutsche und lässt sie bei wichtigen Entscheidungen mit abstimmen.
Eine solche steht an, als Supermarkt-Betreiber Fernand ihr einen Deal vorschlägt. Er will aus Paulas Hühnchen mit Biografie samt humaner Aufzucht einen Großhandel machen. Dafür müssen die Hühner in weit höherer Zahl ein neu gebautes Gebäude in der Stadt ziehen. Doch irgendjemand hasst Paulas Projekt einer humanen Hühnerhaltung. Und schreckt auch vor Gewalt nicht zurück.
Experiment mit Konsequenzen
Die Story hat immer wieder skurrile Züge – doch erzählt Rico sie nicht als Satire. Viel eher konstruiert sie ein Gedankenexperiment: Was wäre, wenn jemand wie Paula mit der Idee einer humanen Tierhaltung wirklich in aller Konsequenz Ernst machen würde? Und was wären tatsächlich die Konsequenzen? Fernsehende Hühner? Gewalttätige Reaktionen der Fleischindustrie? Mit großer Genauigkeit und sensiblem Blick für ihre Akteure untersucht Rico den Fortgang ihres Experiments. (akr)