STUTTGART. Manchmal muss ein Künstler das, wofür er bisher stand, mit einem radikalen Stilwechsel kaputtmachen, um sich neu zu erfinden. An diesem Punkt ist Alligatoah, der bürgerlich Lukas Strobel heißt, gerade. Nach einer ausverkauften Tournee 2023 löschte der Rapper, Videokünstler, Gitarrist und Songwriter sämtlichen Content von seinen Accounts in den sozialen Medien und verkündete auf seinen Kanälen: »Alligatoah war ein deutschsprachiger Musiker (1989-2023)«. Die Fans spekulierten über ein Karriereende des 35-jährigen.
Doch Anfang 2024 meldete er sich mit einer Kooperation mit Limp-Bizkit-Frontmann Fred Durst und dem Metal-Album »off« zurück. Damit trat er auch auf dem Wacken-Festival auf. Die Musikgeschichte lehrt, dass Stilwechsel von den Fans nicht immer honoriert werden. Legendär sind die »Judas, Judas«-Rufe, als Bob Dylan auf die E-Gitarre wechselte. Alligatoah musste in Stuttgart erleben, dass die Schleyerhalle nur noch zur Hälfte gefüllt war. Sein Konzert vor zwei Jahren war noch ausverkauft gewesen. Das mag daran liegen, das es in seinem zumeist jungen Publikum wenig Schnittmengen zwischen den Fans von deutschem Battlerap und Metal gibt. Wer von Schalke nach Dortmund wechselt, der spielt zwar immer noch Fußball, aber nicht mehr für dieselbe Fan-Community.
Moshpits und Wacken-Shirts
Die Fans in der Schleyerhalle trugen Wacken-T-Shirts und benahmen sich auch wie auf dem legendären Metal-Festival. Es entstanden Moshpits, in denen die Zuschauer sich anrempelten und wild im Kreis rannten. Die achtjährige Mia aus Freiburg, die mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder Max sowie Mama und Papa gekommen war, war wohl froh darüber, dass genügend Platz war, um sich aus dem wilden Treiben herauszuhalten. Dafür konnten Mia und Max - ausgestattet mit Fankleidung und Ohrenschützern - fast jedes Lied textsicher mitsingen.
Bei genauerem Hinsehen ist der Stilwechsel des Niedersachsen, der bei Bremerhaven aufwuchs, eine organische Folge seiner Einflüsse. So berief er sich in Interviews auf Battlerap, deutsche Liedermacher, Punk, Nu Metal und Filme von Stanley Kubrick.
Referenzen an Kubrick
Unverkennbar waren die Referenzen an Kubricks Filme »2001: Odyssee im Weltraum« und »A Clockwork Orange« in der Bühneninszenierung. Aus dem Weltraum landete Strobel mit Fellmantel und Fellschuhen in einem Büro, das er während der ersten Lieder mit einem Baseball-Schläger zerstörte. »Wie gefällt Euch mein Bühnenbild oder besser gesagt: Wie gefiel es euch?«, fragte er das Publikum. Die Kubrick-Referenzen finden sich auch in Alligatoahs Texten. So heißt es im Titel »Willst du«: »Ich werd' euch mit 'ner Axt durch ein Labyrinth jagen. Im Winter, weil ich das Bild feier« – eineAnspielung auf das Finale von Kubricks Horrorstreifen »Shining« mit Jack Nicholson.
In seinen Ansagen erklärte Alligatoah auch seinen Stilwechsel: »Ich wollte nicht reduziert werden auf Dadadidada, sondern ich bin auch Roaaahhh.« Die alten Hits werde er im Laufe des zweistündigen Konzerts zwar noch spielen, aber zunächst wolle er eine Stunde lang Metal machen.
Alte Hits ohne Band
Strobels vierköpfige Band in der Besetzung Gitarre, Klarinette, DJ und Schlagzeug lieferte erstaunliche harte Metalriffs, er selbst setzte stimmlich ein energiegeladenes Growling und Screaming ein, das man bisher von Alligatoah nicht gekannt hatte. Im Kontrast dazu spielte er seine alten Hits wie »Willst du«, »Musik ist keine Lösung« oder »Monet« ohne Band und begleitete sich nur selbst an der Akustikgitarre. Seine Bandmitglieder hätten seit dem Stilwechsel die alten Songs vergessen, witzelte Strobel. Demonstrativ räkelten sich die Musiker währenddessen auf einem Sofa, rauchten und verzehrten Knabbersachen.
Alligatoah ist ein Meister der theatralischen Inszenierung. Genial etwa die Überleitung zwischen zwei Liedtiteln im Dialog mit dem Publikum. "Musik ist keine Lösung, aber Nazis sind auch keine Lösung", sinnierte Strobel, woraufhin das Publikum "Nazis raus, Nazis raus" skandierte. "Apropos raus, das nächste Lied heißt "So raus", kündigte Alligatoah daraufhin an.
Wrestling-Einlage
Bei der Zugabe legte Alligatoah noch eine Wrestling-Einlage hin. Als sich ein scheinbar Unbefugter mit auffälliger Perücke an sein Keyboard setzte, warf Strobel den Eindringling hinter die Kulisse, drosch dort scheinbar auf ihn ein. »Ich weiß auch nicht, warum mich keiner leiden kann?«, fragte er scheinheilig, womit er auch auf den Hass anspielte, den er seit seinem Stilwechsel abbekommen habe. Dann spielte er ohne Begleitung die Ballade »Partner in Crime«. (GEA)