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Aktuell Ausstellung

Mensch und Maschinen: Industrialisierung am Bodensee

Konstanz macht die Bodenseeregion im Spannungsfeld der Industrialisierung bis heute sichtbar.

Gießerei der 1874 gegründeten Konstanzer Rieter-Werke (Münchner Künstlerin, unbekannt).
Gießerei der 1874 gegründeten Konstanzer Rieter-Werke (Münchner Künstlerin, unbekannt). Foto: Ingeborg Kunze
Gießerei der 1874 gegründeten Konstanzer Rieter-Werke (Münchner Künstlerin, unbekannt).
Foto: Ingeborg Kunze

KONSTANZ. Der Kapitalismus basiert auf der merkwürdigen Überzeugung, dass widerwärtige Menschen aus widerwärtigen Motiven irgendwie für das allgemeine Wohl sorgen werden. Dieser Satz, dem britischen Ökonomen, Politiker, Mathematiker John Maynard Keynes (1883–1946) zugeschrieben, passt zu der Epoche des immensen Umbruchs, in der die einen wie die anderen gelebt und geleistet haben. Menschen in der Industrialisierung, von der und mit deren Fortschritten wir heute leben. Sichtbar und spürbar, auch unter die Haut gehend in der Ausstellung 2024 im Rosgartenmuseum Konstanz mit dem Titel »Wir schaffen was! Arbeitswelten in der Kunst am Bodensee«.

Tuch von Macaire Konstanz.
Tuch von Macaire Konstanz. Foto: Ingeborg Kunze
Tuch von Macaire Konstanz.
Foto: Ingeborg Kunze

Kapitalismus, Alp- und Landwirtschaft, Fischerei, Weinbau, Felder, Handwerk, Handstickerei und Handwerkskunst, Schifffahrt, Maschinen, Industrieproduktion, Fabrikhallen, Dampfmaschinen, Kohlehalden. Ohne die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, bei der Angebot und Nachfrage den Markt regulieren, wäre der internationale Bodenseeraum nicht das, was er ist - nicht ohne Kapitalisten, ihrem Geld, das Arbeitsplätze schuf, Mut zum Risiko, ihrem Anspruch. Bürgerlichem Wohlbefinden mit Wohnung, Auto, Reisen, Freizeit, Freiheit sind schwierigste Phasen vorausgegangen, in denen jenseits der Macht des Geldes der Alltag karg war und Arbeit Erschöpfung bis zum Ende. Das zeigt die Ausstellung.

Vernetzte Kulturlandschaft

Bilder, Gegenstände und eine Kino-Inszenierung lassen in internationaler Teamleistung mit dem führenden Historiker Dr. Tobias Engelsing erleben, wie alles war und alles kam. Zu den Arbeitswelten der eng vernetzten Kulturlandschaft legt der Direktor der Konstanzer Museen als Herausgeber einen 168-Seiten-Band vor, mit Beiträgen von Lisa Foege und Louisa Sophia Wahl: die jüngere Wirtschaftsgeschichte des Bodenseeraums, kompakt, dicht illustriert, Mensch, Maschinen.

Reichenauer Fischer (Öl auf Sperrholz, Bernhard Schneider-Blumberg 1927/28).
Reichenauer Fischer (Öl auf Sperrholz, Bernhard Schneider-Blumberg 1927/28). Foto: Ingeborg Kunze
Reichenauer Fischer (Öl auf Sperrholz, Bernhard Schneider-Blumberg 1927/28).
Foto: Ingeborg Kunze

Kinderarbeit, auch beim Fabrikanten Jacques Louis Macaire. Er kam aus Genf, bedruckte seit 1785 maschinell in der ehemaligen Kirche des Konstanzer Dominikanerklosters auf der Insel gebleichte Baumwollstoffe, die Weber und Spinner im Konstanzer Umland in Heimarbeit hergestellt hatten, mit Mustern und verkaufte sie als »Indienne« auf internationalen Märkten. Der Beginn des wichtigsten Konstanzer Industriezweigs des 19. und 20. Jahrhunderts. 1788 arbeiteten bei ihm 81 mitgebrachte Fachkräfte und ungelernte Konstanzer Arbeiter und Lehrlinge.

Bonaparte bis Zeppelin

Großes Geld. Als Konstanzer Bankier verwalteten Macaire und sein Sohn David auch das von Hortense de Beauharnais, Adoptivtochter und Schwägerin Napoleon Bonapartes, und ihrem Bruder Eugène nach Deutschland transferierte Vermögen. David Macaire war auch Mitbegründer der Bodensee-Dampfschifffahrt. Über seine Tochter Amélie kam ein erheblicher Teil des Vermögens zur Familie der Grafen von Zeppelin: Macaires Neffe war der im Ex-Kloster auf der Konstanzer Insel geborene Luftschiffbauer Graf Ferdinand von Zeppelin (1838-1917).

Drastische Veränderungen also zwischen Appenzell und Rheinfall. Realer Kontrast zu idealisierten Bildern einer von gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen scheinbar unberührten Natur, als trügerische Idylle auf dem touristischen Markt verkauft. Die Ausstellung stellt klar: Der Bodenseeraum ist »seit dem frühen 19. Jahrhundert bedeutender Schauplatz der Industrialisierung. 1801 nimmt die erste mechanische Baumwollspinnerei in St. Gallen den Betrieb auf. Im Thurgau und in Vorarlberg werden Baumwolltücher bedruckt. Vorarlberg, die Ostschweiz, Konstanz und Teile des Hegaus sind Zentren der neuen, global vernetzten Textilindustrie. Am Nordufer des Sees investieren Schweizer Unternehmer in Maschinenfabriken, in Friedrichshafen werden von 1900 an Luftschiffe gebaut, Motoren, Autos. Auch im Hegau und in Schaffhausen rauchen die Schlote neuer Industriebetriebe: Escher Wyss, Sulzer, Schiesser, Maggi. In Arbon, Singen, Schaffhausen wird Metall gegossen.«

Eisenbeschlagene Schuhe eines Kindes um 1900, Appenzell.
Eisenbeschlagene Schuhe eines Kindes um 1900, Appenzell. Foto: Ingeborg Kunze
Eisenbeschlagene Schuhe eines Kindes um 1900, Appenzell.
Foto: Ingeborg Kunze

Die Härte dieser Welten macht betroffen. Kunst und Fotografie zeigen Schwerstarbeit bei offenem Feuer, Spinn- und Nähstuben, Menschen in Massen in Fabriken und Werkstätten, auf dem Bau, im Hafen, auf Güterbahnhöfen, in der Landwirtschaft, auf Gemüsefeldern. Den Alltag arbeitender Bevölkerung, bis ins 20. Jahrhundert hinein auch Kinder in Fabrikhallen, auf Baustellen, auf dem Feld. Zwölfstündige Arbeitstage. Blechgeschirr, Armut.

Ausstellungsinfo

Die Ausstellung »Wir schaffen was! Arbeitswelten in der Kunst am Bodensee« im Rosgartenmuseum, Rosgartenstraße 3-5 in Konstanz, ist bis zum 5. Januar 2025 zu sehen. Geöffnet ist Dienstag bis Freitag von 10 bis 18 Uhr, Samstag, Sonntag und an Feiertagen von 10 bis 17 Uhr. Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre haben freien Eintritt, außerdem freier Eintritt jeden ersten Sonntag im Monat. Vorträge und Exkursionen im Rahmenprogramm. Das Begleitbuch (168 Seiten, 16 Euro) ist im Museumsshop und im Buchhandel erhältlich. (GEA)

www.rosgartenmuseum.de

Partnermuseen in Bregenz, Meersburg, Stockach, Ittingen, Schaffhausen, St. Gallen, Steckborn, Urnäsch und Appenzell Innerrhoden und private Leihgeber haben beigetragen. Emotionales wie die eisenbeschlagenen Schuhe eines Appenzeller Kindes um 1900. Die Mustertücher von Macaire. Der Schleifkarren des letzten Konstanzer Scheren- und Messerschleifers Nikolaus Ams (1904-1974). Sozialkritischer Realismus wie von Käthe Kollwitz ist selten in diesen regionalen Bildern aus Arbeitswelten, die als Kunst keiner sehen wollte. Das Rosgartenmuseum fordert »angesichts des aktuellen tiefgreifenden Bedeutungswandels von Arbeit« zum Sehen wie zum Denken auf: Verliert menschliche Arbeit im digitalen Zeitalter ihre zentrale Bedeutung und ihre industriegeschichtlich bedingte ideologische Aufladung? (GEA)