REUTLINGEN. Er hat unter anderem bei Friedemann Rieger, dem künstlerischen Leiter des Reutlinger Kammermusikzyklus, in Stuttgart und bei der in Reutlingen aufgewachsenen Pianistin Uta Weyand in Madrid studiert. 2013 wurde Laurens Patzlaff auf die deutschlandweit erste Professur für Angewandtes Klavierspiel an die Musikhochschule Lübeck berufen. Eine Aufgabe wie maßgeschneidert für ihn, beherrscht der Pianist doch die Kunst der Improvisation wie nur wenige in der Klassikszene.
Das Fach Angewandtes Klavierspiel zielt darauf ab, das im 19. Jahrhundert noch gängige Ideal des Universalpianisten wiederzubeleben – indem Improvisation, das Spielen von Kompositionen, aber auch Partitur-Spiel und Korrepetition in einem Unterricht zusammengeführt werden.
Selten war die im Programmheft des Reutlinger Kammermusikzyklus abgedruckte Liste von Stücken so übersichtlich wie für das Konzert, das der 1981 geborene Laurens Patzlaff am Dienstag im kleinen Saal der Stadthalle gab – bestand doch der überwiegende Teil aus Improvisationen.
Beethovens »Fantasie« in g-Moll, Opus 77 hatte er außerdem mitgebracht. Ein Stück, das einen Begriff davon gibt, wie Beethoven improvisierte, wenn er sich in geselliger Runde ans Klavier setzte. Patzlaff las dazu auch die vom Beethoven-Schüler Carl Czerny 1852 festgehaltene Anekdote über die Entstehung der Fantasie vor. Ein Pianist hatte gebeten, ihm ein Thema zum Improvisieren zu geben. Beethoven ging laut Czerny ans Klavier, »spielte eine Tonleiter durch mehrere Oktaven hinauf und setzte sich lachend wieder nieder«. Nach wie vor nach einem Thema verlangend habe der Pianist von Beethoven zu hören bekommen, dass das ja schon ein Thema sei, und noch dazu »ein sehr gutes«. Er selbst verarbeitete es kurz darauf in seiner Fantasie Opus 77.
Ein frei schweifendes Suchen und Tasten, das auf eine abwärts stürzende Moll-Skala in Zweiunddreißigsteln folgt, kennzeichnet den ersten Teil des Werks, wie Patzlaff in seinem Spiel verdeutlicht. Erst im zweiten Teil werden Thema und Tonart fixiert. Patzlaff greift expressiv in die Tasten, zeigt Beethoven, der eine ernste Vision entwickelt, Entwicklungen abbricht, es mit einer behaglich-heiteren Melodie versucht, eine brüske harmonische Wendung vornimmt. Als schließlich eine zarte, entrückte Melodie erscheint, ist das Thema gefunden und wird in Variationen durchgespielt. Bis wieder die Tonleiter vom Anfang auftaucht, die schöne Melodie aber nicht vertreiben kann.
Drangvolles Sehnen
Man staunt nur so, was der hoch konzentriert spielende, aber niemals in irgendwelche Noten vertiefte Laurens Patzlaff aus dem Inneren schöpft. Mit Präludium, Intermezzo und Coda stellt er verschiedene Improvisationsgattungen vor, geht in die Vollen, lässt gängigen Mustern und Versatzstücken Originäres folgen, entwickelt das eine aus dem anderen oder spielt bewusst mit klaren Brüchen. Ein drangvolles Sehnen klingt in seinen Stegreifstücken an, schicksalhafte Ballungen in der tiefen Lage, lichte Terzherrlichkeit, Zweifel und Versonnenheit, wogendes Träumen.
Spielend hinterfragt der Pianist die Geschichte der Kadenz-Improvisation, indem er Beethovens Bemerkung »Non si fa una Cadenza!« (Spielen Sie hier keine Kadenz) zur Kadenz seines 5. Klavierkonzerts beiseite wischt und auf diese Stelle hin ein Solo improvisiert.
Besonders spannend wird es, als Patzlaff das Publikum bittet, musikalische Themen, Melodien oder Titel aller Art vorzuschlagen, über die er dann frei improvisiert. Da erscheinen dann der Beatles-Song »Yesterday« mit Beethoven-Übergängen und einer Wagnerschen Klangrückung oder Mozarts »Türkischer Marsch« als Neue-Musik-Nummer klanglich zerlegt.
Ein Thema aus dem vierten Satz von Mozarts »Jupitersinfonie« ist gekonnt fugiert, Beethovens »Mondscheinsonate« nimmt eine Wendung hin zum Jazz. Stupend fusioniert Patzlaff die Bundeshymne und den Song »Summertime« zu kraftvoller, in Teilen lyrischer Ballettmusik. Und auch die kunstvoll miteinander verschmolzenen Abendlieder, die Patzlaff als Zugaben spielt, hat man bei anderen Interpreten so noch nie gehört. Ein inspirierender Abend! (GEA)

