LUDWIGSBURG. In der Netflix-Doku »Kaulitz und Kaulitz« gibt es einen Schlüsselmoment: Die beiden »bekanntesten Zwillinge der Welt« (Selbsteinschätzung) haben beim Campen in der Wildnis keinen Handyempfang und verzweifeln darüber fast. Es ist ein Sinnbild der inzwischen zwanzigjährigen Karriere der Hauptprotagonisten von Tokio Hotel: Sie wollen für sich sein; sie wollen aber auch präsent sein. Ruhm ist ein Fluch – und eine Passion. 2010 flohen die Brüder in den Promi-Hot-Spot Los Angeles, wo selbst eine Figur wie Bill Kaulitz in der Star-Masse untergeht.
Aber ganz ohne Rampenlicht geht es dann doch nicht. Also statt Los Angeles nun Ludwigsburg. Zum Start der Europa-Tournee in der dortigen MHP-Arena scheint es, als hätten sie ihre Balance gefunden – in unterschiedlicher Ausführung. Tom Kaulitz an der Gitarre, Gustav Schäfer am Schlagzeug und Georg Listing am Bass wirken wie gechillte Familienväter, die gemeinsam die alten Jugendband-Zeiten aufleben lassen.
Peter-Pan-Moment mit Engelsflügeln
Sie haben es unzweifelhaft noch drauf. Aber die viertausend Menschen in der Halle kommen doch eher für den Peter-Pan-Moment des Bill Kaulitz. Der lässt sich mit Engelsflügeln in die Höhe schrauben, eine Plüschgitarre reichen, meistert High-Heel-Stiefel, als wäre er darin geboren, und wechselt die Glitzeroutfits, als wäre er eine junge Version von Cher.
Keine Frage, da hat ein großer Junge Bock auf Bühne. Der Unterschied zu 2005: Der Junge hat inzwischen genug erlebt, um sie mit der Feier diverser Wiedergeburten zu bespielen. Die sind zum einen musikalischer Natur: Als Premiere präsentiert die Band den neuen Song »Hands up« – eine fröhliche Feel-Good-Popnummer. Ganz anders als der deutsche Weltschmerz-Rock aus den Teenager-Tagen.
Alte Nummer als Kontrastfläche
Einige dieser Nummern mit sprechenden Titel wie »Spring nicht« oder »Rette mich« sind immer noch im Programm. Sie sind aber vor allem Kontrastfläche. Wut, Schmerz und Verzweiflung scheinen aus dem Kaulitz-Kosmos verschwunden – und damit auch die harten Riffs und die schreienden Refrains. Stattdessen dominieren heute wohlige Elektro-Klangteppiche und »Sei wie du bist«-Songs wie »Love who loves you back« oder »Home«. Hinzu kommen noch Cover-Nummern von Songs von Kraftklub und George Michael (»Careless Whisper«).
Zusammengeführt in einem Konzert könnte das leicht zusammengewürfelt wirken. Das wird allerdings dadurch überdeckt, dass dieses kreative Chaos die Reise der Hauptfigur »Bill« treffend abbildet. Die Faszination von Tokio Hotel zwei Jahrzehnte nach dem ersten Bravo-Cover speist sich aus der Freude, dass er es überlebt hat.
Den »Monsun« gut überstanden
Der Jugendliche, der so anders war, zum Emo-Sexsymbol erklärt wurde und darüber seine Sexualität verleugnen musste; der ist heute offenbar ein glücklicher Erwachsener – ein großer Junge, leicht verpeilt zwar (dafür gibt es Tom als Backup), aber auf der Bühne grundsympathisch und nahbar. Tanzt vor Projektionen nackter Menschenknäuel, flirtet mit dem Vater eines jungen Fans und freut sich des Lebens als queerer Ikone.
Eine beruhigende Erkenntnis: Tokio Hotel haben es gut »Durch den Monsun« geschafft. Den geben sie als Zugabe mit Bildern aus ihrer Anfangszeit. Man denkt sich dabei: »Kinder, wie die Zeit vergeht!« Aber im Fall der Kaulitz-Brüder auch: »Gut, dass diese Zeit hinter ihnen liegt!« (GEA)