REUTLINGEN. Altwerden ist nichts für Feiglinge – das hat vor bald 100 Jahren eine Hollywood-Legende gesagt. Der Spruch hat manche sicher schon beschäftigt, bevor sie Tickets fürs Konstantin-Wecker-Konzert in der Reutlinger Stadthalle gekauft haben. Am Freitagabend konnte man fast drei Stunden lang drüber nachdenken. Genug Anlass gab es: Da vorne stand, lehnte und saß einer, der das Leben immer zelebriert hat, auch dafür liebte man ihn. Jetzt baut er ab. Unübersehbar. Sein Körper macht nicht mehr mit. Wie geht ein Konstantin Wecker damit um? Und was bedeutet das für alle, die mit ihm älter werden? Für die eigene Vergänglichkeit?
»Lieder meines Lebens« heißt das Programm, mit dem der 78-Jährige derzeit tourt. Melodien und Poesie aus seinem bald 60-jährigen Schaffen – ausgesucht, weil sie ihm was bedeuten. Er verwebt sie mit den Geschichten seines Lebens. Buben-Geschichten. Italien-Geschichten. Kinder-Großzieh-Geschichten. Plus berühmte Namen: Schon in der ersten Moderation bringt er Mascha Kaleko, Ingeborg Bachman und Martin Luther King unter. Gemeinsam hört man eine Tonband-Aufnahme von ihm als Knaben-Sopran im Duett mit dem Vater. Alles fühlt sich persönlich an. Und ist zugleich das, was der späte Wecker heute allen zeigen will. Was er so oder ähnlich derzeit auf jeder Bühne, in jedem Interview und in seiner unlängst veröffentlichten Biografie präsentiert.
Klavierspielen geht nicht mehr
Warum er so gebrechlich wirkt, ist schnell gegoogelt, sofern man‘s nicht schon weiß: Er habe Polyneuropathie, sagte er Medien, nach Jahrzehnten mit Drogen und Alkohol. Erst seit wenigen Jahren sei er trocken. Klavier spielen? Geht nicht mehr. Das macht Jo Barnikel für ihn, ein langjähriger Wegbegleiter, den er lobt, dem er dankt. Still lauscht er den Melodien und Harmonien hinterher, die früher durch seinen eigenen Körper fluteten. Manchmal geht ein Ruck durch ihn, mal zucken die meist hängenden Hände. Es rührte an. Er liest viel vom Teleprompter ab, Lieder wie auch Moderationen. Und die einst so saalfüllende Stimme, ihre Energie, Nuancen, schlafwandlerische Intonation? Ganz ehrlich: weitgehend verschwunden. Er spricht manches, singsangt eher vorsichtig, ist zart. Nur ganz selten lugt die alte Kraft nochmal raus. Dann: Gänsehaut, und wie.
Das stört in der vollen Stadthalle die wenigsten. Viel zu berührt sind sie von dem, was der ihnen vertraute Künstler da vorn noch zu sein und zu geben versucht. »Ich sing für alle, die mit mir noch auf der Suche sind«, heißt es zu Beginn in »Leben im Leben«, für alle, die »unvollendet enden, irgendwann.« Seine Botschaften, seine Kämpfe, sein Geist, seine Utopien, all das ist ja noch da. »Ihr habt geschrien, wo alle schwiegen – es ging ums Tun und nicht ums Siegen!«, besingt er die Weiße Rose. Gefeiert wird die Hymne »Sage Nein«, sie bringt den Saal auf die Beine. An Hannes Wader erinnernd, stimmt er »Es ist an der Zeit« an, das ikonische Antikriegslied, ein Gespräch mit einem toten Soldaten: »Du hast ihnen alles gegeben, deine Kraft, deine Jugend, dein Leben.«
Sätze, die das Herz weit machen
Dann sind da diese wunderschönen Sätze, die das Herz weit machen können. »Es duftet nach Akazien, und dein Lächeln duftet auch«, was für ein Liebeslied. »Der Sommer geht vorbei, und mit ihm stirbt mein Sehnen«, das »Kleine Herbstlied« fühlen viele mit.
Herbst war greifbar in diesem Saal in Reutlingen. »Ich will die Zeit noch nützen« stammt aus einer Elegie, die Wecker vorlas. Er schrieb sie für den ermordeten Filmemacher Paolo Pasolini. Ein Satz, der auch über diesem Abend stand. Nach fast drei Stunden, nach Zerbrechlichkeit und Kampf, nach Standing Ovations und vielen Zugaben, sang er als allerletztes »Jeder Augenblick ist ewig«, seinen kleinen bayerischen Rausschmeißer: »In der Zeit muss alles sterben, aber nichts im Augenblick.« (GEA)



