TÜBINGEN. »Lebensglück besteht sicher auch in der Kunst, sich zu verändern«, sagte der österreichische Schriftsteller Arno Geiger am Montagabend in Tübingen. In seinem jüngsten Roman »Reise nach Laredo« (erschienen im Hanser Verlag), aus dem er auf Einladung der Buchhandlung Osiander im Museumssaal las, stellt er einen Menschen in den Mittelpunkt, der eine für viele seiner Zeitgenossen überraschende Veränderung vornahm: Der Habsburger Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, war von Krankheit gezeichnet, als er im Jahr 1555 abdankte. 1557 zog er sich in ein Landhaus beim abgelegenen Kloster San Jéronimo de Yuste in der Extremadura zurück. Karls Verzicht auf alle Herrscherämter hatte damals die Aufspaltung des Hauses Habsburg in eine spanische und eine österreichische Linie zur Folge.
Geiger, der für seinen Roman »Es geht uns gut« 2005 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, findet den Schritt des Monarchen, der als Herrscher eines Reiches bezeichnet wurde, »in dem die Sonne nie untergeht«, bemerkenswert und wertet ihn als Versuch Karls, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, mit sich ins Reine zu kommen. »Ich glaube, dieser Rücktritt, der ihm als Schwäche ausgelegt worden ist, ist in Wahrheit eine Stärke. Wir klammern uns, glaube ich, aus Schwäche an Dinge - unangenehme Situationen, in denen wir vielleicht lieber verbleiben, weil wir sie kennen«, kam der Autor aufs Grundsätzliche zu sprechen. »Das Ungewisse, das zwar Chancen bietet, aber eben ungewiss ist, macht uns mehr Angst.« Er selbst denke, dass man weniger oft sagen sollte, dass nichts Besseres nachkomme.
Mit 16 Jahren König von Spanien
Was den Monarchen betreffe, der nach seiner Abdankung nur noch als »Karl« habe angesprochen werden wollen, sei viel Aufmerksamkeit auf den Herrscher gelegt worden. »Für den Menschen Karl hat sich nie wirklich jemand interessiert.« Karl war bereits im Alter von 16 Jahren zum König von Spanien geworden. Er starb 58-jährig im Jahr 1558, also wenige Jahre nach seinem Ämterverzicht.
Geiger lässt ihn im Roman denken: »Der Tod könnte schön sein, wenn man gelebt hat.« Und so schickt er ihn an der Seite des 11-jährigen Geronimo, der nicht weiß, dass er ein illegitimer Sohn Karls ist, auf eine Abenteuerreise. Schmerzgeplagt, wie er ist, kann er nicht mehr auf dem »hohen Ross« sitzen. Wie Sancho Panza ist er daher auf dem Rücken eines Maulesels unterwegs. Fast wie in einem Western gerät das Duo in gefährliche Situationen, rettet zwei Unschuldige. Die beiden finden ein Wundertier, erreichen das Meer. »Es ist ein wirklich tolles Abenteuer, was Karl sich plötzlich auch traut und wie er lebt«, fasste Ingrid Abeln, die das Gespräch mit Geiger moderierte, zusammen. »Man hat das Gefühl, dieser Ausbruch, diese Öffnung nach außen hin bringt ihm sehr viel.« Das werde im Roman nicht zuletzt in Passagen der Selbstreflexion deutlich.
Große Erwartungen
Geiger, der 56 Jahre alt ist, sagte, dass er sich Fragen, die Karl sich gestellt haben mag, selbst stelle. »Wie geht es weiter? Will ich ewig so weitermachen? Wer bin ich überhaupt? Warum tue ich mir das alles an? Der Druck ist groß, die Erwartungen sind groß. Zurückfallen hinter das, was ich erreicht habe, will ich nicht. Wollen die wenigsten. Und drum klammern wir uns an Dinge.«
Er habe für sein Buch nicht allzu viel recherchiert. Schon so viel, »um einen festen Boden unter den Füßen zu haben«, um darauf springen und improvisieren zu können. Als Schriftsteller empfinde er sich - mit William S. Burroughs gesprochen - als einen »Kosmonauten des Innenraums«. Historisch sei der Rückzug Karls wohl gescheitert, nimmt Geiger an. Dieser habe ihm nicht die gewünschte Befreiung gebracht. Er sei gefangen geblieben »in dem, was er war«. Beim Schreiben des Romans habe er, Geiger, einen Satz Søren Kierkegaards im Hinterkopf gehabt: »Die Tür zum Glück geht nach außen auf.« (GEA)